Donnerstag, 16. Oktober 2014

Samstag, 14.Oktober 89


"In der "Freiheit", unserer Tageszeitung, erscheint heute folgendes Interview mit dem Chef der Prügelpolizei:

Gemeinsam mit den Bürgern für Ruhe und Ordnung sorgen Interview mit dem Leiter des VPKA, Oberst Jahnke

FRAGE: Es gibt Gerüchte, daß es am Montagabend in Halle zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen sei. Was ist dazu zu sagen?

ANTWORT: Es hat so was nicht gegeben. Wer von „gewalttätigen Ausschreitungen“ spricht, der war entweder nicht dabei oder redet nur nach, was er in westlichen Medien gehört hat.
Tatsächlich war die Sache so, daß sich am späten Nachmittag vor der Markt-Kirche etwa 400 Leute angesammelt hatten, die dort zum Teil mit brennenden Kerzen standen. Einige von ihnen entrollten Transparente und gaben so dem Ganzen den Charakter einer Demonstration, die nicht genehmigt war. Wir forderten diese Bürger auf, die Transparente zu entfernen- und damit die Demonstration  zu beenden. Als sie das getan hatten, ging die Gruppe von sieben Volkspolizisten wieder, was so „gewalttätig“ war, daß es sogar mit Beifall quittiert wurde. Während ein Teil der Versammelten am Gottesdienst teilnahm, formierten sich andere erneut zu einer Demonstration, die den
Verkehr behinderte und die Passanten auf dem Nachhauseweg beeinträchtigte. Wir haben daraufhin über Megaphon gebeten, den Marktplatz zu verlassen. Dieser Aufforderung kamen ca. 200 Personen, vorwiegend Jugendliche, nicht nach. Angehörige der Volkspolizei sorgten für die gewaltlose Auflösung der Ansammlung. Es konnte also keine Verletzten geben.

FRAGE: Welche polizeilichen Maßnamen haben sie noch eingeleitet?

ANTWORT: 37 Jugendliche mußten sich wegen Störung der öffentlichen Ordnung zur Überprüfung Ihrer Personalien mit auf die VP-Dienststelle kommen, sie wurden belehrt und wieder entlassen.

FRAGE: Wie ist überhaupt Ihr Standpunkt zu dieser Problematik?

ANTWORT: Wir haben die Aufgabe, die öffentliche Ordnung und Sicherheit im Interesse aller Bürger zu gewährleisten. Das tun wir mit großem Einsatz, pausenlos zu jeder Zeit, durch die Genossen der Volkspolizei, durch die Angehörigen der Feuerwehr, durch die Mitarbeiter der Kriminalpolizei, durch die Abschnittsbevollmächtigten in den Wohngebieten und natürlich durch die Genossen der Schutzpolizei. Jeder weiß, dass das im vertrauensvollen Miteinander von Volkspolizei und Bürgern geht. Wer jedoch Krawalle inszeniert, die öffentliche Ordnung verlässt, das Leben unserer Bürger gefährdet, muß mit der Härte des Gesetztes rechnen.

Nach der Erklärung des Politbüros des Zentralkomitees der SED vom

11. Oktober 1989 können die lancierten Gerüchte über angeblich gewalttätige
Auseinandersetzungen in Halle nur so zu verstehen sein, daß weiter angeheizt werden soll.

In der Erklärung des Politbüros heißt es: „Die Probleme der weiteren Entwicklung des Sozialismus in der DDR lösen wir selbst- im sachlichen Dialog und im vertrauensvollen Miteinander. Die sozialistische Arbeiter- und- Bauern-Macht ist von niemanden erpreßbar.

Wer bewußt die Konfrontation sucht und schürt, der hat nicht die Interessen des Volkes im Sinn, der beeinträchtigt das gesellschaftliche Leben und verfolgt sehr eigennützig politische Ziele. Wer verantwortungslos Ruhe und Ordnung stört, der muß sich fragen lassen, wessen Geschäft er betreibt und ist, die Sicherheit von Bürgern, ihren Familien und nicht zuletzt ihrer für wen er bereit Kinder aufs Spiel zu setzen. Ich bin überzeugt, daß der Rat der Stadt Halle und sein Oberbürgermeister stets bereit sind, die Diskussion mit allen zu führen, denen das Wohl und Wehe der Bürger am Herzen liegt. Dazu bedarf es guten Willens. Die Gespräche sollten im vernünftigem Rahmen und nicht durch Straßenaktionen geführt werden.“


Er lügt das Blaue vom Himmel. In seiner Stadt ist fast nichts passiert. Tausende Bürger haben sich geirrt, Ärzte keine Verletzungen gesehen. Kein Wort vom größten Polizeiaufgebot seit dem 17.Juni 1953. 
Lügen, immer wieder Lügen.

Für den nächsten Montag habe ich unter einem Vorwand meinen Haushaltstag beantragt. Es ist immer noch schwierig den wahren Grund zu nennen. Sicher hätte ich dann nicht frei, sondern die STASI am Hals. 
Egal was passiert: Am Montag sind wir dabei!


Am Nachmittag fahre ich nach Halle. Seit einigen Tagen gibt es an der Kirche St. Georgen eine Mahnwache für die Inhaftierten vom 9.Oktober. Dort erhalte ich endlich die ersehnten Informationen. Es ist zwar immer noch ein Risiko dort hinzugehen, aber meine STASI-Akte ist 20 Jahre dick und wird es verkraften.
Ich bewundere den Mut der meist jungen Leute, die dort unter massiver Bewachung Tag und Nacht ausharren. Ich kaufe Kerzen, stelle sie zu den anderen, tapfer gegen den Wind ankämpfenden, auf die Mauer."

Ich habe im Internet Fotos aus diesen Tagen gefunden. Aber die kann ich nicht zeigen. Deshalb hier ein Link: https://snapshot-photography.spratshop.com/#s//2974/628368

 

Montag, 16.Oktober 89

Gegen 16.30 Uhr fahren wir in die Altstadt. Meinem Sohn sage ich nur: „Mach dir keine Sorgen. Wir kommen bestimmt wieder.“
Sicher bin ich mir allerdings nicht.
Auf dem Markt werden Zettel verteilt. Gestern war in der Pauluskirche eine Bürgerversammlung und ein Ergebnis ist der folgende

AUFRUF ZUR GEWALTLOSIGKEIT IN UNSERER STADT

Gewalt ist kein Mittel zur Lösung von  gesellschaftlichen Konflikten.
Angesichts der aktuellen Situation in unserer Stadt halten wir jetzt für das Wichtigste:
1. Selbstverpflichtung zur strikten Gewaltfreiheit
2. Keine Gewalt der Sicherheitsorgane gegen die Teilnehmer friedlicher          Zusammenkünfte
3. Keine Diffamierung und Kriminalisierung von reformengagierten Personen   und Gruppen
4. Offene und wahrheitsgetreue Berichterstattung in den Medien
5. Versammlungs- und Redefreiheit
6. Bereitstellung von Räumen und Plätzen zur öffentlichen Diskussion
(zum Beispiel in Klubhäusern, Jugendklubs und auf städtischen Freianlagen)

Halle/Saale, den 15.Oktober 1989         Bürgerversammlung in der Pauluskirche



Mit dem Schlagen der Uhr im Roten Turm um Fünf beginnt die Kundgebung. Schweigend stehen wir und mit uns vielleicht 3000 ? - Blumen oder Kerzen in den Händen- auf dem Markt. Es ist keine Polizei zu sehen. Aber STASI beobachtet und filmt uns von dem Neubau an der Südecke des Platzes und den großen Kaufhäusern. Der Verkehr wird nicht behindert.
Ich sehe mich um. Es sind alle Altersgruppen und Schichten vertreten. Einfach die unterschiedlichsten Menschen mit dem gleichen Ziel: Wir wollen endlich freie, mündige Bürger sein. Nach einer Stunde formiert sich der erste Demonstrationszug in Halle. Wir gehen langsam mit unseren Kerzen an der Marktkirche (die heute aus Sicherheitsgründen geschlossen bleibt) vorbei zur Moritzkirche. Sie ist bereits überfüllt. Weiter zur Elisabethkirche. Dort findet 18.30 Uhr ein Friedensgebet statt. Dechant Herold spricht mit einfachen klaren Worten das aus, was uns alle bewegt. Gänsehaut als  ich zum ersten Mal Beifall, stürmischen Applaus in einer Kirche, einer katholischen Kirche, erlebe. 
 
Alle sind sich einig: Wir haben einen historischen Tag erlebt! Er  wird alles verändern. Die Honecker-Clique hat ausgespielt. OHNE GEWALT haben wir sie entmachtet. Wir lassen uns nicht mehr mit Erklärungen abspeisen,
WIR KLAGEN EIN !

Nach dem Gebet gehen wir zur Mahnwache St. Georgen und stellen unsere Kerzen zu den Hunderten, die bereits brennen. Viele Autos am Knoten 46 (zwischen den beiden Kirchen) hupen Solidarität.

Zu Hause dann die neuen Bilder aus Leipzig. Viele Zehntausende sind es dort. Weit über Hunderttausend im ganzen Land. Friedlich fordernd.


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