Montag, 10. November 2014

Freitag, 10.November 89



Freitags ist immer mein freier Tag. Geplant war nach Leizig zur MMM (Messe der Meister von Morgen) zu fahren, weil meine Tochter zusammen mit anderen Kommilitonen dort ausstellt. Aber  Leipzig geht immer. Wir wollen nach Berlin!

Seit vier Uhr morgens stehen Menschenschlangen vor dem VPKA

(Volks-Polizei-Kreis-Amt) nach Visa an.  Die  Linientreuen ganz vorn.

In der Kaufhalle gibt es nur ein Thema: Wann fährst du rüber? 
Wir sind uns einig: sofort und ohne Visa. Wir probieren es einfach aus.

Mittags sitzen wir im Zug nach Berlin. Er ist leer und pünktlich.

Von Lichtenberg fahren wir mit der S-Bahn Richtung Prenzelberg, weil ich denke der Grenzübergang Bornholmer Straße ist günstig. Denkste! Alles total überfüllt.
Eine Lautsprecherdurchsage: „Bitte benutzen Sie die anderen Übergänge!“ Beinahe endet unser Blitzbesuch hier mit einem handfesten Krach. Zu Fuß machen wir uns auf Richtung Westen. Durch unbekannte Straßen, die Sonne ist schon am Sinken, immer in Richtung Übergang Invalidenstraße.

Um 16 Uhr haben wir es geschafft! Aber kein Vergleich zum Sommer. Autostau bis zur Ständigen Vertretung, Menschen über Menschen. Während sich die Schlange zügig vorwärts bewegt, erinnere ich mich an den August und kann immer noch nicht glauben, was hier passiert: 
Ringsum lachende, glückliche, aufgeregte Menschen und freundliche Beamte.



Wir haben das Tor erreicht. Ein Blick in unsere Ausweise, kein Stempel. Leider! Wie sollen wir jetzt beweisen, dass wir heute hier sind? Um Fünf sind wir in Westberlin. Ein Spalier von klatschenden, „Willkommen“ rufenden Berlinern, Blumen oder Sekt in den Händen, empfängt uns. 

ICH HABE TRÄNEN IN DEN AUGEN UND KRIBBELN IM BAUCH !! 

Wir sind auf der bunten Seite der Mauer. Wer hätte das geglaubt?

Gehofft haben wir, dass es einmal so sein könnte, als wir konterrevolutionär geschimpft wurden und Staatsfeinde waren. Am 16.Oktober auf dem Markt in Halle mit Kerzen in den Händen und Angst im Nacken. Videokameras ringsum. 

DREI MONATE NACH MEINEM TRAUM: EINFACH HINGEHEN, DURCHGEHEN UND WIEDERKOMMEN, BIN ICH HIER!!!                WAHNSINN!!!!! 

Wir laufen zum Lehrter Bahnhof, zur S- Bahn. Die Erste ist übervoll. Aber wir haben schon einen Plan der Verkehrsverbindungen in Berlin - West und ein Extra- Blatt des „Tagesspiegel“. Alle fahren zum Bahnhof Zoo, wir nicht. Unser Ziel ist Charlottenburg. Noch nie im Westen, aber trotzdem intuitiv richtig gehandelt. Wahrscheinlich, weil wir nicht den Konsum suchen. Wir wollen Land und Leute kennen lernen.

Doch auch wir brauchen dazu Geld. Die Sparkasse am U- Bahnhof Wilmersdorfer Straße ist nicht sehr voll. 17.45 Uhr haben wir jeder einen nagelneuen 100-DM-Schein in den Händen. Und nun? Heute ist Donnerstag! Natürlich wollen wir auch wir einige Geschenke, Erinnerungen mitnehmen.
In 45 Minuten ist Geschäftsschluss. Also keine Zeit lange zu suchen. Wir gehen zu KARSTADT. Fünf Etagen, Rolltreppen auf- und abwärts, ungewohnte Warenfülle und es riecht überall...wie Weihnachten.

Ich suche einen Walkman für meinen Sohn. In der Radioabteilung ist alles zu teuer. In der Spielwarenetage werde ich fündig. Schnell noch ein paar Süßigkeiten für alle. Weihnachtskalender 1,99 DM, Schokolade 0,79 DM usw. Ich bezahle 12 DM für einen Beutel voll.

Feierabend! Die gestressten, aber dennoch freundlichen Verkäufer bitten zum Ausgang. Vor dem Kaufhaus ist ein türkischer Obst- und Gemüsestand. Bananen sind ausverkauft.....Ich kaufe Klementinen, bezahle zuviel. Doch das werde ich erst viel später feststellen.


Was nun, wohin in dieser fremden Stadt? Wo ist der KU-DAMM?

Das war es doch: Einmal im Leben auf dem Kurfürstendamm bummeln! Wir laufen einfach los. Gehen an geschlossenen Läden vorbei. HERTIE und WOOLWORTH, ALDI und C&A, KAISERS u.v.a.m.
In kurzen Abständen Imbissbuden. Einheitliche Preise: alle Getränke1,50 DM, die Currywurst 1,99 DM. Links ein Schnellrestaurant, nicht Mc Donalds, aber Hamburger gibt es auch hier. Wir haben noch MITROPA- Brötchen und Kaffeedurst. An einem kleinen Stand wärmen wir uns auf und kommen mit den Leuten ins Gespräch. Der Kaffee ist gut und kostenlos. Ein kleiner Fernseher läuft. Wir haben den ganzen Tag noch keine Nachrichten gehört oder gesehen. Das holen wir jetzt nach. „Der Run auf die Grenzen hat eingesetzt. – Immer noch Leute auf der Mauer. – Die Stimmung ist aggressiver.“


Bahnhof Charlottenburg. Hier sehen die Geschäfte schon etwas anders aus. Second-Hand-Shops und Pornokinos. Kurzentschlossen gehen wir in eins hinein. Warum denn nicht? Alt genug sind wir geworden, bevor wir es durften. Muschebubu- Beleuchtung und 6 DM für eine Cola. Auf der Leinwand nichts neues für aufgeschlossene Enddreißiger. Enttäuscht sind wir nicht, man muss alles mal gesehen und erlebt haben. 

Weiter!

Am Savigny - Platz sind wir arg pflastermüde und durchgefroren. Eine Pizzeria lockt. Die Preise sind akzeptabel. Es wird eine schöne Stunde. Wir trinken Kaffee, hören leise Musik und fühlen uns irgendwie zu Hause. Es ist warm und gemütlich. Wir werden sehr gut bedient, obwohl eine Schachtel F6 auf dem Tisch liegt und auch wir die unvermeidlichen Einkaufstüten bei uns haben.

Wir sind uns einig: Wir könnten auch in Berlin-Ost sitzen. Es gibt sehr große und gar keine Unterschiede zwischen Savigny- Platz und Köpenick. Ich esse eine Pizza mit Pilzen. Ein Riesending, aber ich schaffe sie. Aufgewärmt und satt brechen wir wieder auf.

Irgendwie sind wir plötzlich da. Stehen vor der Gedächtniskirche. Hier war vor einigen Stunden eine Kundgebung mit Kanzler Kohl. Er wurde ausgepfiffen. Der Ku-Damm gefällt uns nicht. Zu viele Menschen, die noch nicht gelernt haben mit ihrer neuen Freiheit umzugehen. Nach einem kurzen Stück Glitzerwelt, weichen wir aus. Gehen andere Wege, am Bahnhof ZOO vorbei in Richtung Brandenburger Tor. Über den Landwehrkanal, ich sehe die Schilder zur Erinnerung an Rosa und Karl – dann Park. Wir sehen schon die Siegessäule und sind erstaunt und beeindruckt. Vom Osten wirkte sie kleiner.


Die Straße des 17.Juni. Weit hinten noch, das Brandenburger Tor. Irgendwie wird uns immer  mulmiger. Hier sind fast keine DDR-Leute, hier sind schaulustige Touristen. Sie wollen auf keinen Fall den historischen Moment verpassen. Quer über die sehr breite Straße stehen die Übertragungswagen der Fernsehanstalten aus aller Welt. ARD und ZDF, RTL vor allem aber ABC und die anderen Amerikaner. Riesige Scheinwerfer leuchten alles farbfernsehgerecht aus. Wir sind innerhalb der Absperrung, um nicht erdrückt zu werden, stehen zwischen den Reportern.

Direkt vor uns die bunte Mauer. Die Menschen darauf, dicht gedrängt mit Sektflaschen in den Händen. Einer versucht mit dem Hammer die stabile Betonmauer zu zerstören. Eine Disco heizt ein.


Plötzlich haben wir Gänsehaut. Wir halten uns an den Händen und haben Angst!

Angst, dass das, was wir sehen, umkippt in Gewalt. Aber es ist eine andere Angst als in Halle auf dem Markt. Es ist Todesangst.


Weg hier, nichts wie weg! Wir gehen an der Mauer entlang in Richtung Reichstag. Es ist nach Mitternacht und wir hören Sirenen von Polizei oder Krankenwagen. Gehen an den Kreuzen für die Mauertoten vorbei und entschließen uns noch einmal in die Wilmersdorfer Straße zu fahren.

Wir wollen die erschreckenden Bilder vergessen. Zurück zu den freundlichen Berlinern, noch mal zu dem Imbissstand. Auf dem Weg zum Brandenburger Tor hatten wir die neue BILD- Zeitung bekommen und schwatzen jetzt über die Aufmachung.Typisch BILD. Schwarz-rot-gold umrandet. Balkenüberschrift:

DEUTSCHLAND UMARMT SICH ! EINIGKEIT UND RECHT UND FREIHEIT !

Darunter ein großes farbiges Bild von den Menschen auf der Mauer.

„Das Unvorstellbare ist Wirklichkeit geworden – Berliner aus Ost und West haben die Mauer erklommen, verharren ergriffen, viele mit Tränen in den Augen. Das Brandenburger Tor – 28 Jahre lang Symbol der Teilung – ist wieder das, was es immer war – Symbol der Einheit.“



Ein Mann mit Pommes und Majo spricht uns an: „Woher kommt ihr? Aus Halle? Aha!...Ihr habt das gut gemacht dort in der DDR. Das Volk hat gesiegt...Fahrt Ihr wieder zurück? Natürlich.... Ich fahre ja auch wieder nach Kopenhagen.“ Wir können ganz normal miteinander umgehen.


Genau 1.15 Uhr steigen wir in Charlottenburg in die S-Bahn Richtung Friedrichstraße. Am Bahnhof Zoo wird sie voll. Die Züge aus dem Osten sind noch voller. Alles drängt nach Westberlin. Wir fahren zurück, haben den anderen das Erlebnis der zweiten Nacht der offenen Grenzen voraus.

Dann in einer Minute der Wechsel von West nach Ost. Keine Kontrolle. Kein Stempel, nichts. Vorbeigewinkt an den Türen der Zollabfertigung.

Plötzlich stehen wir vor dem bekannten Aufgang.

Nach der unbestimmten Angst nicht wieder einreisen zu dürfen, (die wir beide heimlich hatten) jetzt übereinstimmende Meinung: Ohne Kontrollen darf es nicht bleiben!

Als erstes fällt uns der Schmutz auf. So sah es in Westberlin nur aus, wo DDR-Bürger die „Freiheit“ genossen hatten. Bis Charlottenburg war die Welle noch nicht geschwappt. Dort war es noch sauber. Sogar auf den Gleisen. Sauberer Kies, keine Zigarettenkippen. Was sind wir nur für Menschen?


2.20 Uhr fährt unser Zug nach Halle. Er kommt von der Küste und ist sehr voll. Als wir einsteigen ist er leer. Lets go west! Ein Volk ist aufgebrochen seine Nachbarn im Westen „heimzusuchen“.



Samstag, 11.November

Um 6.00 Uhr stehe ich mit meinen KARSTADT- Beuteln zwischen meinen Kolleginnen und melde mich zurück. Häääääääääää? Ungläubiges Staunen!

Und dann: „WIE WARS???

Wahnsinnig schön und noch nicht verarbeitet. Zu Hause wecke ich meinen Sohn, nehme ihn in die Arme und wir heulen beide los wie zwei Schlosshunde. Dann packe ich aus.

Die beste Meldung des Tages ist für mich, dass Polizisten aus Ost und West gemeinsam die Mauer geräumt haben, nachdem es die ersten Verletzten gab.

Der Anfang ist gemacht!



aufgeschrieben im Herbst und Winter 1989.

1.Abschrift Januar 1990

2.Abschrift und Bearbeitung Sommer 1990.

In den Computer geschrieben vom 25.-29. Juni 2008. 7300 Wörter.

Viele Formulierungen und sind aus heutiger Sicht altmodisch oder ideologisch. Das war mir nicht bewusst, steckt aber wahrscheinlich in allen im Osten Aufgewachsenen drin.



Auszug aus " Wer zu spät kommt... von M.Richter

Sonntag, 9. November 2014

Donnerstag, 9.November 89




9.November. Dieser Tag ist kein Tag wie jeder andere. Revolution 1918, Reichskristallnacht 1938 und mehr sind mit diesem Datum verbunden. 
Niemand ahnt um kurz vor Sieben, dass wir heute einen historischen Tag erleben werden.

Ich bin im Spätverkauf und fülle die Regale auf und punkt sieben mache ich die Klappe hoch! Im Radio laufen die Nachrichten. Die Pressekonferenz am Abend nach der 10.Tagung des ZK. Schabowski beantwortet die Frage eines Journalisten nach den Reisemöglichkeiten reichlich konfus. Das wird unterschiedlich interpretiert. 
Meine späteren Kunden überraschen mich mit der Neuigkeit: Die Mauer ist weg/ gefallen! oder  Wir können reisen!  Mein Kommentar: "Erst mal abwarten!"

Doch dann überschlagen sich beim RIAS die Meldungen. Man kann einfach mit dem Ausweis über die Grenze. Alle sind überrumpelt und überfordert. 
Vor allem Zoll und Grenzbeamte. Völlig unvorbereitet stehen sie plötzlich Menschen aus Ost und West gegenüber, die es selbst ausprobieren wollen. Einmal Ku- Damm und zurück, eine Molle am Alexanderplatz. 
Es wird die Nacht der offenen Grenzen. Die Nacht der glücklichen Berliner in der 28 Jahre geteilten Stadt. Feiernde Menschen auf der Mauer! Trabbis auf dem Kurfürstendamm! Die Straße des 17.Juni total verstopft.
WIR SIND EIN VOLK! DAS IST EINFACH WAHNSINN!!!

Wir sitzen in Halle-Neustadt in der ersten Reihe und glauben kaum, was wir hören und sehen. 
Wird es so bleiben oder ist es morgen vorbei ??? Wir müssen nach Berlin!

 Auszug aus " Wer zu spät kommt... von M.Richter

Dienstag,7.November 89



Am Abend ist die Regierung zurückgetreten und hat damit bei unseren Bürgern noch mehr Verwirrung gestiftet. Auch ein Appell von Christa Wolf zum hier bleiben nützt nichts mehr. 
Warum sollten wir? Um zu arbeiten, arbeiten, arbeiten? Das können wir auch drüben.


Mittwoch,8.November 89

Stand der Übersiedler seit dem 11.September 89 fast 100.000

Heute begann die 10.Tagung des ZK. Das alte Politbüro ist geschlossen zurückgetreten. Der einzige interessante Mann im neuen ist Hans Modrow.
In Halle schlagen die Wogen der Erregung hoch. Achim Böhme sitzt mit 66 Gegenstimmen auch in diesem Verein. Mittag und Hermann werden ausgeschlossen.

Donnerstag, 6. November 2014

Montag, 6. November 89


Heute wird ein wichtiger Tag in unserer Geschichte.

Ich fühle das schon am Morgen, als ich die Zeitung aufschlage und dieses Reisegesetz im alten Politbürostil lese. Die Politik der kleinen Zugeständnisse soll weitergehen.

Aber nicht mit uns! Das Volk wird in Massen auf der Straße sein.



Am Nachmittag gehe ich wieder zum „Gebet für unser Land“.

Die Marktkirche war noch nie so voll. Dichtgedrängt stehen die verunsicherten Menschen und  wollen jetzt wissen, was die Kirchenvertreter zu sagen haben.

Wohin geht unser Land? In die Katastrophe?


Es gibt fast niemanden mehr, der in den letzten Tagen nicht Abschied von Verwandten oder Freunden nehmen musste. Allein in unserer kleinen Kaufhalle sind heute früh 3 Kollegen nicht zur Arbeit erschienen. Die Frau eines Kollegen rief an und fragte nach ihm. Er ist mit seiner Freundin weg.

Aber auch Frauen bringen das fertig. Lassen einfach ihre Kinder im Stich! Familientragödien tausendfach.



Das Gebet ist heute nur kurz. Aktuelles überwiegt. Jeder kann nach vorn gehen und seine Erlebnisse, Hoffnungen und Wünsche vortragen. Unglaubliches wird berichtet, aber es ist doch die schlimme Wahrheit. Als ich endlich den Ausgang erreicht habe, ist der Markt bereits voller Menschen. Meinen Freund finde ich in diesem Gedränge nicht. Sehr langsam geht es vorwärts. Die Straßenbahnen sind eingekeilt und als ich in Höhe „Cafe am Markt“ bin, geht absolut nichts mehr. Von hinten wird gedrängelt, aber vorn ist kein Platz mehr. Ich habe Angst zerquetscht zu werden.
Die Kundgebung beginnt eher als geplant. Es ist sehr neblig, nasskalt und jetzt fängt es auch noch an zu regnen. Doch die Stimmung ist heiß. Achim Böhme, der Sekretär der Bezirksleitung, stellt sich und wird erneut ausgebuht und ausgepfiffen. Auf die Frage, warum er so ein großen Westauto fährt, antwortet er: „Ich habe die ganzen Jahre für diesen Staat gearbeitet und deshalb das Recht so zu leben!“



Riesentumult bricht los. Nur seine Sicherheitsleute können ihn vor der, mit Recht,
aufgebrachten Menge schützen. Haben wir etwa nicht gearbeitet? Doch, aber wir sind 40 Jahre ausgebeutet worden von vielen, viel zu vielen Böhmes.


Rechtlos, geknechtet, bespitzelt.
So klar wie heute, war es den meisten noch nie





Schätzungsweise 100.000 Hallenser protestieren heute. In Leipzig sind es etwa 500.000 Demonstranten. Im ganzen Land weit über eine Million. Dieses Signal kann man nicht mehr übersehen. Die Regierung ist zum Handeln gezwungen!



 Auszug aus " Wer zu spät kommt... von M.Richter
 

Dienstag, 4. November 2014

Wochenende 4./5.November 89




Dieses Wochenende wird schlimm. Die Leute sind gereizt. 
Viele nette Kunden verabschieden sich für immer. 
Auch ich stehe unter starkem psychischen Druck. Mein Freund will gehen. Ich nicht! 
Aber vielleicht hat doch er recht? Was sollen wir tun? Wie wird es hier weitergehen? 
Eine lähmende Unsicherheit beherrscht uns alle. Die Staatsmacht ist am Ende.

Am Sonntag wird die erste genehmigte Demo in Berlin live im Fernsehen übertragen. Etwa 500.000 Menschen sind auf dem Alexanderplatz und hören mehrere Stunden, was 40 Jahre nicht gesagt werden durfte. Regimekritiker und Künstler melden sich zu Wort. Aber auch Markus Wolf und viele alte Genossen.

Ein Reisegesetzentwurf wird angekündigt.

Die Botschaft in Prag wird erneut geräumt. 6000 gehen nur mit dem Personalausweis in die Bundesrepublik. Die CSSR hat die Grenze geöffnet, um den Umweg Prag zu vermeiden. Wie müssen die Tschechen die Massenflucht empfinden? Signalwirkung wird befürchtet. Einige DDR-Bürger nutzen die offene Grenze zu Ausflügen nach Bayern. Sie zeigen, was wir doch eigentlich nur wollen: Reisen, Land und Leute kennen lernen und dann mit neuer Kraft an die Arbeit in der Heimat.
 
Seit Öffnung der ungarischen Grenze am 11.September 89 sind mehr als 50.000 DDR-Bürger ausgereist.

Überall werden DIALOGE geführt.

Montag, 3. November 2014

Mittwoch, 1.November 89









Heute wird die Grenze zur CSSR wieder geöffnet. Was wird geschehen? Das Gefängnis DDR hat wieder eine Tür in die Freiheit.
 
Freitag,3.November 89

Ein Schicksalstag.
Es war vorherzusehen. Der Massenexodus geht weiter. Die Botschaft in Prag ist wieder überfüllt. 
Die Lage im Land ist außerordentlich kritisch. Egon war in Warschau und Moskau. 
Harry Tisch ist endlich zurückgetreten worden.

In Suhl und Gera wurden die 1.Sekretäre der SED-BL abgelöst! Achim Böhme stellte sich gestern Abend den Hallensern auf dem Markt, nachdem er sich zweimal in seinem Prachtbau verbarrikadiert hatte. Er konnte niemanden überzeugen. Das Vertrauen in diese Leute, in diese Partei ist nicht mehr da.
Im Fernsehen wieder unvorstellbare Bilder von fliehenden Menschen.

Am Abend appelliert Egon Krenz in Funk und Fernsehen an Alle.
Diesmal benutzt er die Anrede: Liebe Zuschauer!
„In einer kritischen Zeit wende ich mich an alle Bürger der DDR und an alle Mitglieder der SED....Die politische Wende, die wir eingeleitet haben, erfasst inzwischen alle Bereiche unserer Gesellschaft. etc pp“

Egon und seine Partei haben die Wende eingeleitet. Schon allein der  Satz bringt nicht nur mich in Rage und zusammen sind wir stark.

 Auszug aus " Wer zu spät kommt... von M.Richter

Freitag, 31. Oktober 2014

Dienstag, 31.Oktober 89




Heute wird zum ersten Mal in den Zeitungen objektiv über die Demonstrationen berichtet. Über 50.000 in Halle, 200.000 in Leipzig, große Demos auch in Schwerin, Magdeburg, Plauen, Dresden und vielen anderen Städten.


 Auszug aus " Wer zu spät kommt... von M.Richter

Donnerstag, 30. Oktober 2014

Montag, 30.Oktober 89




Das „Gebet für unser Land“ findet ab sofort vor der DEMO statt.  
Die Marktkirche ist übervoll. Die Menschen kommen von der Arbeit und wollen Informationen. In den Zeitungen wird noch zu viel gelogen oder verschwiegen. 
 
Am letzten Donnerstag gab es im „Volkspark“ das erste öffentliche Forum mit dem OB, der SED und dem Neuen Forum. Die Säle waren mit ausgesuchten Leuten besetzt und der wirklich Interessierte stand vor der Tür. Aber es wurde per Lautsprecher nach draußen übertragen und auch der Sender Halle berichtete Live. Starke Emotionen löste die Antwort eines jungen Mannes aus.
Er wurde gefragt: „Stimmt es, dass ausgerechnet am Montag und auf dem halleschen Marktplatz eine Gegendemonstration geplant sei, zu der die SED aufgerufen habe?“ „Ja. Das ist richtig, aber seine Genossen in BUNA haben das abgelehnt.“ Die SED-Leute Rau und Falkenstein dementieren.

Heute erschien in der „Freiheit“ eine „Erklärung des Sekretariates der Bezirksleitung der SED“. Ich zitiere:
Während eines Bürgerforums im halleschen „Volkspark“ ist durch Diskussionsteilnehmer behauptet worden, die Bezirksleitung Halle der SED hätte den Beschluß gefaßt, am heutigen Tage auf dem halleschen Marktplatz eine Gegendemo unter dem  Motto „ROTE FAHNEN GEGEN WEISSE KERZEN“ zu organisieren. Diesen Beschluß hat es nicht gegeben.“

In der Kirche legt eine junge Frau einen Beweis vor. Sie hat den Aufruf zur Demo vom Schwarzen Brett mitgebracht. Lügen, Lügen immer wieder Lügen! Die Stimmung ist deutlich gereizt.

Nach dem Gottesdienst treffen wir meinen Sohn. Er will heute dabei sein. Er hat Kerzen mitgebracht und ist aufgeregt. Die Stimmung ist sehr gut. Ungeduldig warten alle auf den Beginn der DEMO. 
Um fünf geht es los. Wir laufen den schon bekannten Weg zur BL. Der Demozug ist bedeutend breiter und länger. Wir lassen uns nicht wieder trennen und die Solidarität in den gestoppten Autos ist motivierend. Es brennen Kerzen in LKW-Fahrerkabinen, PKWs hupen und die Fahrer winken uns zu. Am INTERHOTEL werden wir schon von vielen erwartet. Die Fußgängerbrücke über die Leninallee ist schwarz von Menschen. Für sie da oben muss es ein großartiges Bild sein:
Zehntausende mit vielen Kerzen und noch mehr Spruchbändern. Ganze Schulklassen mit ihren Lehrern sind dabei. Sie tragen Plakate zum Thema Bildung. Eine riesige Menschenmenge stellt sich vor dem „Cafe Böhme“ auf. Die Sprechchöre sind aggressiv, zu viele kommen sich verscheißert, veralbert, betrogen vor. „Achim weg, hat  kein  Zweck“, „STASI  in die  Volkswirtschaft“  und „Drei Ämter – Drei Männer“ wird gefordert. Etwa eine halbe Stunde rufen wir „Achim komm raus!“ 
Es tut sich nichts. Das Haus bleibt dunkel. Die Bonzen haben sich verschanzt und beobachten uns hinter  dunkelgetönten Scheiben. Auf Postenketten haben sie heute verzichtet. 
Aber vielleicht wollte auch keiner mehr!? 
Wir stellen Kerzen direkt vor die Eingänge  und auf die Treppen. 

Der Zug geht weiter. Es ist schon spät. Ich muss mich sputen um pünktlich im Laden zu stehen. Am Franckeplatz treffe ich die Spitze des Zuges und freue mich. Die Letzten haben
sicher erst die BL passiert. Ein tolles Gefühl: So viele Menschen sind nicht zu übersehen und auch unmöglich „konterrevolutionär“.

Ungefähr 20.30 Uhr hören wir im Laden plötzlich die typischen Demorufe. Das gibt es doch nicht? Demo in Neustadt? Mein Freund nimmt seine Jacke und schließt sich noch mal an.(Wir hatten uns gerade über das Ende der Demo in Halle unterhalten. Die  „Internationale“ wurde gesungen. Unsere Hymne ist nicht mehr bekannt. Gesungen wurde sie schon zu lange nicht mehr.)
Späte Kunden erzählen mir, dass sie mit dem Ruf „Gorbi, Gorbi“ an der Garnison vorbei gelaufen sind. Der Rest will zum „Roten Haus“, dem STASI- Hauptquartier  am Gimritzer Damm. Hoffentlich geht das gut?

Im Fernsehen gibt es gleich 2 Sensationen: Karl-Eduard von Schnitzler meldet sich zum letzten Mal mit seinem unsäglichen „Schwarzen Kanal“ und im 2.Programm des DDR-Fernsehens gibt es ab heute „AK- Zwo“ Spätnachrichten. Mit einem ausführlichen Bericht von den Demos und aus Leipzig.

An diesem Montag waren wir alle auf der Straße. Meine Tochter in ihrem Studienort Magdeburg. 
Sie schreibt mir:„Wir kommen gerade vom Dom und haben anschließend die Demo mitgemacht. Es war überwältigend. 50 bis 60 Tausend Menschen im strömenden Regen. Im Dom wurde zur Ruhe gemahnt und es war auch ruhig. Klatschchöre am laufenden Band. Ständig, immer wieder.Und es wurde immer lauter. Tausende Kerzen waren überall. Und grüne Bänder. Auch wir werden ab Morgen ein grünes Band tragen. Als Zeichen der Hoffnung!“

Ich kann ihr nur gratulieren. Bisher hatte sie eher eine ablehnende Haltung.


Am Samstag mussten wir abends im Fernsehen mit Erschütterung die Zerschlagung einer DEMO in Prag sehen Warum kann das nicht überall so friedlich ablaufen wie hier?


 Auszug aus " Wer zu spät kommt... von M.Richter

Montag, 27. Oktober 2014

Donnerstag, 26.Oktober 89




"In Rostock, Gera, Frankfurt, und Dresden sind schon Hunderttausende auf der Straße. Modrow sagt in Dresden: „Das was jetzt begonnen hat, wird die DDR revolutionär verändern.“ Überall gibt es runde Tische!


Samstag, 28.Oktober 89

Wir sehen abends im Fernsehen mit Erschütterung die Zerschlagung einer DEMO in Prag. Warum kann das nicht überall so friedlich ablaufen wie hier?"

 Auszug aus " Wer zu spät kommt... von M.Richter

Samstag, 25. Oktober 2014

Dienstag,24.Oktober 89


 


"In der Runde von 25 Parteifreunden und dem Vorstand gebe ich einen wahrheitsgemäßen Bericht von der DEMO. Man hört mir zu und es gibt von den meisten Zustimmung, aber auch totale Ablehnung. Es wird außerordentlich kontrovers diskutiert. Wir müssen erst lernen andere Meinungen zu respektieren.
Ich erzähle von den beiden DEMO- Zügen. In der „Freiheit“ wird über unseren geschrieben. 7000  sollen es gewesen sein. Die „Mitteldeutschen Neuesten Nachrichten“(MNN) berichten über ca. 8000. Ich schätze, ca. 20.000 Menschen waren auf der Straße. In Leipzig waren es gestern bereits 200 000.

Heute ist auch die von allen  mit Spannung erwartete Tagung der Volkskammer. Sindermann leitet sie zum letzten Mal und stellt sich bei der Abstimmung ein Armutszeugnis aus. Es wird nicht mehr einstimmig beschlossen. Für alte Männer ist es schwierig umzulernen. Egon wird mit 26 Gegenstimmen und 26 Enthaltungen in alle drei Ämter gewählt. Das wird am nächsten Montag zig Tausende mehr auf die Straßen treiben."

Auszug aus " Wer zu spät kommt... von M.Richter

Freitag, 24. Oktober 2014

Montag, 23.Oktober 89




Heute begann ein 5-Tage-Lehrgang der National-Demokratische Partei Deutschlands (NDPD). Das ist eine der Blockparteien. Ich nehme mit gemischten Gefühlen teil. Für mich steht fest: Wenn mich das ganze nicht von der Notwendigkeit dieser Partei überzeugen kann, trete ich aus. Es sind interessante Leute da und es wird offen diskutiert. Ich erfahre viel Neues und bemerke, dass meine Worte und Ansichten konstruktiv sind.

Heute ist ein herrlicher Spätsommertag. Viel zu warm für die Jahreszeit. Am Nachmittag gehe ich barfuss in Jesuslatschen zur DEMO.
Es sind bedeutend mehr Menschen da als vor einer Woche. Und es gibt ganz viele Transparente: Reisefreiheit für alle.. Pressefreiheit.. u.v.a.m  
Und es geht los! Wir bleiben nicht auf dem Markt, sondern laufen die Leipziger Straße hoch bis zum Kino. Dort versuchen Genossen in Schlips und Anzug mit uns zu diskutieren. Keiner kennt sie und von hinten kommt der Ruf „Weiterlaufen“. Wir gehen in Richtung Thälmann-Platz, am Klubhaus der Gewerkschaften vorbei. Mir wird klar, wo es hingehen soll: zur Bezirksleitung der SED. Der berüchtigte 40 Millionen teure Anbau, genannt „Cafe Böhme“ ist unser Ziel. Ob das gut gehen wird? Doch wir sind mittendrin und wollen nicht mehr weg.

Wir laufen mitten auf der Straße. Der Verkehr Richtung Neustadt ist gestoppt. Doch es gibt Lichtzeichen aus stehenden LKWs und lautes Hupen als Beifall. Wir haben unsere Sprache wiedergefunden und rufen: „Schließt euch an!“ und „Auf die Straße, auf die Straße!“ An der Fußgängerbrücke am Thälmannplatz schaue ich zurück. Am Klubhaus ist Schluss? Das kann doch nicht wahr sein. Wo sind die anderen?

Das „Cafe Böhme“ ist abgeriegelt. Kampfgruppe oder Polizei im Drillich. Untergehakt bilden sie eine Menschenkette gegen uns. Was mag in ihren Köpfen vorgehen? Sind wir die Konterrevolution? Mit stoischer Ruhe, aber nicht unfreundlich, stehen sie uns gegenüber. Wir rufen nach Achim Böhme, dem SED-Chef von Halle. Nichts, das Haus bleibt dunkel. In den Hochhäusern ringsum sind die Menschen auf den Balkonen und an den Fenstern. „Schließt euch an!“ und „Kommt runter!“ rufen wir. Die ersten Kerzen brennen in den Fenstern, spontan kommen Leute herunter und reihen sich ein. Wir haben Kerzen vor die Postenkette gestellt und gehen weiter in Richtung Rannischer Platz. Seit Jahren war ich nicht hier und bin erschüttert! Tote Häuser, Abrissgegend. Ohne unsere Kerzen würden wir die Hand vor Augen nicht sehen. Die Sprechchöre werden frecher.

Nach dem Rannischen Platz schere ich aus. Ich muss zur Arbeit. Jetzt überhole ich den Zug. Der Steinweg ist von Straßenbahnen verstopft. Nichts geht mehr!

Kurz vor dem Busbahnhof treffe ich die ersten aus dem zweiten DEMO-Zug. Man hat uns absichtlich getrennt. Während wir zur Bezirksleitung liefen, wurde der Rest am Leipziger Turm in Richtung Fahnenmonument und Markt geschickt. Dort waren die Repräsentanten der Stadt zum DIALOG bereit. Ein Straßenbahnfahrer erzählt über Megaphon seine Geschichte. Er hatte als Zeichen der Solidarität eine Kerze in seine Fahrerkabine gestellt und wurde daraufhin diszipliniert. Der Fahrdienstleiter hat ihm den Führerschein entzogen.

Kurz vor der Kaufhalle kommt mir eine Kollegin entgegen. Nanu? Woher, wohin? Ich bin spät dran. „Ich komme von der DEMO. Es sind viele Leute da.“ 
Kommentar:  "Oh oh, dann weiß ich ja, dass mein Mann wieder erst spät kommt“. 

Seine Schuld. Warum steht er auf der falschen Seite?!
Viele Kunden sprechen mich an. Es gab zwei DEMOS. Und bei mir gibt es das frische Montagsdemobrot und offene Gespräche gratis. Ich vertrete meine Meinung, egal wer mir gegenübersteht. Ein Spiel mit dem Feuer, sicherlich. Aber ich gehe das Risiko ein.

Auszug aus " Wer zu spät kommt... von M.Richter



Dienstag, 17.Oktober 89



"Die „Freiheit“ bringt erstmalig eine Meldung von der Montagsdemo in Leipzig. Und unter „Kurz notiert“ folgendes:
„Ansammlung auf dem halleschen Markt
In den Nachmittagsstunden des gestrigen Tages kam es auf dem halleschen Marktplatz zu einer demonstrativen Ansammlung von etwa 1500 meist jugendlicher Teilnehmern.
Obwohl diese Veranstaltung weder beantragt noch genehmigt war, haben die Schutz- und Sicherheitskräfte nicht eingegriffen. Bei vielen Passanten löste die Ansammlung Verwirrung, Unverständnis und Unwillen aus.“


Mittwoch, 18.Oktober 89

Erich Honecker nimmt seinen Hut und Kronprinz Egon tritt sein Amt an. Der König ist tot! Es lebe der König!!!


Donnerstag, 19.Oktober 89
 
Egon hat die Wende eingeleitet. Er ging unangemeldet an die Basis und hat die armen Menschen sehr erschreckt. Am Nachmittag redete er sogar mit Kirchenchef  Bischof Leich. Die DDR-Medien werden offener.




Freitag,20.Oktober 89



Ich habe einen Tag lang Fernsehsendungen in Ost und West verfolgt:



19.30 Uhr: DDR I „Aktuelle Kamera“

-         ab Dezember Rentenerhöhungen (im letzten Jahr beschlossen)
-         der „Sputnik“ wird wieder ausgeliefert

-         in Greifswald 3 Stunden Disput mit dem Oberbürgermeister

Interview mit dem Botschafter in Polen, Wolfgang Meyer:

-         Entscheidung ist uns nicht leichtgefallen

-         Wir brauchen jeden und müssen die Ursachen ergründen.

-         Sie haben die DDR im Stich gelassen, verleitet von der BRD.

-         Die Lösung für die Botschaftsflüchtlinge in Warschau trägt zeitweiligen Charakter.

Jeder Bürger hat das Recht einen Ausreiseantrag zu stellen, großzügige Handhabung

-         Jeder der den Wunsch hat zurückzukommen, kann sich an die Staatsanwaltschaft wenden, usw. usf.

VP und Staatsanwalt zu den Vorgängen am 7./8.Oktober in Berlin:

Dr. Dietze, Stellvertr. Polizeipräsident von Berlin:

Übergriffe gab es nicht! Nur Rowdytum, ca. 60 Anzeigen...Blablabla
20.15 Uhr ARD Tagesschau

Demos in Greifswald, Rostock, Zittau u.a.(rund 10.000 Menschen)

-         in Dresden Treffen Modrow (DDR) – Mischnik (BRD)

-         Rechtsanwalt Henrich (NEUES FORUM) fordert Aufhebung der politischen Strafgesetze

-         Momber sagt: SED soll oppositionelle Gruppen anerkennen



DDR II:

ELF 99 zeigt einen Bericht von der Mahnwache an St. Georgen. Am 13.10. war bereits ein Beitrag sendebereit, er wurde nicht gesendet. Heute ist es möglich. Sie bringen den alten und den neuen Bericht. Der hallesche Moderator Jan Carpentier unterhält sich mit Pfarrer Hanewinckel von der Georgenkirche. Außerdem Interviews mit Mitgliedern der Mahnwache und Besuchern. Ein Gespräch mit dem OBM der Stadt kam nicht zustande. Er wollte nicht.

Völlig neue Töne im DDR-Fernsehen."

Auszug aus " Wer zu spät kommt... von M.Richter

Donnerstag, 16. Oktober 2014

Samstag, 14.Oktober 89


"In der "Freiheit", unserer Tageszeitung, erscheint heute folgendes Interview mit dem Chef der Prügelpolizei:

Gemeinsam mit den Bürgern für Ruhe und Ordnung sorgen Interview mit dem Leiter des VPKA, Oberst Jahnke

FRAGE: Es gibt Gerüchte, daß es am Montagabend in Halle zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen sei. Was ist dazu zu sagen?

ANTWORT: Es hat so was nicht gegeben. Wer von „gewalttätigen Ausschreitungen“ spricht, der war entweder nicht dabei oder redet nur nach, was er in westlichen Medien gehört hat.
Tatsächlich war die Sache so, daß sich am späten Nachmittag vor der Markt-Kirche etwa 400 Leute angesammelt hatten, die dort zum Teil mit brennenden Kerzen standen. Einige von ihnen entrollten Transparente und gaben so dem Ganzen den Charakter einer Demonstration, die nicht genehmigt war. Wir forderten diese Bürger auf, die Transparente zu entfernen- und damit die Demonstration  zu beenden. Als sie das getan hatten, ging die Gruppe von sieben Volkspolizisten wieder, was so „gewalttätig“ war, daß es sogar mit Beifall quittiert wurde. Während ein Teil der Versammelten am Gottesdienst teilnahm, formierten sich andere erneut zu einer Demonstration, die den
Verkehr behinderte und die Passanten auf dem Nachhauseweg beeinträchtigte. Wir haben daraufhin über Megaphon gebeten, den Marktplatz zu verlassen. Dieser Aufforderung kamen ca. 200 Personen, vorwiegend Jugendliche, nicht nach. Angehörige der Volkspolizei sorgten für die gewaltlose Auflösung der Ansammlung. Es konnte also keine Verletzten geben.

FRAGE: Welche polizeilichen Maßnamen haben sie noch eingeleitet?

ANTWORT: 37 Jugendliche mußten sich wegen Störung der öffentlichen Ordnung zur Überprüfung Ihrer Personalien mit auf die VP-Dienststelle kommen, sie wurden belehrt und wieder entlassen.

FRAGE: Wie ist überhaupt Ihr Standpunkt zu dieser Problematik?

ANTWORT: Wir haben die Aufgabe, die öffentliche Ordnung und Sicherheit im Interesse aller Bürger zu gewährleisten. Das tun wir mit großem Einsatz, pausenlos zu jeder Zeit, durch die Genossen der Volkspolizei, durch die Angehörigen der Feuerwehr, durch die Mitarbeiter der Kriminalpolizei, durch die Abschnittsbevollmächtigten in den Wohngebieten und natürlich durch die Genossen der Schutzpolizei. Jeder weiß, dass das im vertrauensvollen Miteinander von Volkspolizei und Bürgern geht. Wer jedoch Krawalle inszeniert, die öffentliche Ordnung verlässt, das Leben unserer Bürger gefährdet, muß mit der Härte des Gesetztes rechnen.

Nach der Erklärung des Politbüros des Zentralkomitees der SED vom

11. Oktober 1989 können die lancierten Gerüchte über angeblich gewalttätige
Auseinandersetzungen in Halle nur so zu verstehen sein, daß weiter angeheizt werden soll.

In der Erklärung des Politbüros heißt es: „Die Probleme der weiteren Entwicklung des Sozialismus in der DDR lösen wir selbst- im sachlichen Dialog und im vertrauensvollen Miteinander. Die sozialistische Arbeiter- und- Bauern-Macht ist von niemanden erpreßbar.

Wer bewußt die Konfrontation sucht und schürt, der hat nicht die Interessen des Volkes im Sinn, der beeinträchtigt das gesellschaftliche Leben und verfolgt sehr eigennützig politische Ziele. Wer verantwortungslos Ruhe und Ordnung stört, der muß sich fragen lassen, wessen Geschäft er betreibt und ist, die Sicherheit von Bürgern, ihren Familien und nicht zuletzt ihrer für wen er bereit Kinder aufs Spiel zu setzen. Ich bin überzeugt, daß der Rat der Stadt Halle und sein Oberbürgermeister stets bereit sind, die Diskussion mit allen zu führen, denen das Wohl und Wehe der Bürger am Herzen liegt. Dazu bedarf es guten Willens. Die Gespräche sollten im vernünftigem Rahmen und nicht durch Straßenaktionen geführt werden.“


Er lügt das Blaue vom Himmel. In seiner Stadt ist fast nichts passiert. Tausende Bürger haben sich geirrt, Ärzte keine Verletzungen gesehen. Kein Wort vom größten Polizeiaufgebot seit dem 17.Juni 1953. 
Lügen, immer wieder Lügen.

Für den nächsten Montag habe ich unter einem Vorwand meinen Haushaltstag beantragt. Es ist immer noch schwierig den wahren Grund zu nennen. Sicher hätte ich dann nicht frei, sondern die STASI am Hals. 
Egal was passiert: Am Montag sind wir dabei!


Am Nachmittag fahre ich nach Halle. Seit einigen Tagen gibt es an der Kirche St. Georgen eine Mahnwache für die Inhaftierten vom 9.Oktober. Dort erhalte ich endlich die ersehnten Informationen. Es ist zwar immer noch ein Risiko dort hinzugehen, aber meine STASI-Akte ist 20 Jahre dick und wird es verkraften.
Ich bewundere den Mut der meist jungen Leute, die dort unter massiver Bewachung Tag und Nacht ausharren. Ich kaufe Kerzen, stelle sie zu den anderen, tapfer gegen den Wind ankämpfenden, auf die Mauer."

Ich habe im Internet Fotos aus diesen Tagen gefunden. Aber die kann ich nicht zeigen. Deshalb hier ein Link: https://snapshot-photography.spratshop.com/#s//2974/628368

 

Montag, 16.Oktober 89

Gegen 16.30 Uhr fahren wir in die Altstadt. Meinem Sohn sage ich nur: „Mach dir keine Sorgen. Wir kommen bestimmt wieder.“
Sicher bin ich mir allerdings nicht.
Auf dem Markt werden Zettel verteilt. Gestern war in der Pauluskirche eine Bürgerversammlung und ein Ergebnis ist der folgende

AUFRUF ZUR GEWALTLOSIGKEIT IN UNSERER STADT

Gewalt ist kein Mittel zur Lösung von  gesellschaftlichen Konflikten.
Angesichts der aktuellen Situation in unserer Stadt halten wir jetzt für das Wichtigste:
1. Selbstverpflichtung zur strikten Gewaltfreiheit
2. Keine Gewalt der Sicherheitsorgane gegen die Teilnehmer friedlicher          Zusammenkünfte
3. Keine Diffamierung und Kriminalisierung von reformengagierten Personen   und Gruppen
4. Offene und wahrheitsgetreue Berichterstattung in den Medien
5. Versammlungs- und Redefreiheit
6. Bereitstellung von Räumen und Plätzen zur öffentlichen Diskussion
(zum Beispiel in Klubhäusern, Jugendklubs und auf städtischen Freianlagen)

Halle/Saale, den 15.Oktober 1989         Bürgerversammlung in der Pauluskirche



Mit dem Schlagen der Uhr im Roten Turm um Fünf beginnt die Kundgebung. Schweigend stehen wir und mit uns vielleicht 3000 ? - Blumen oder Kerzen in den Händen- auf dem Markt. Es ist keine Polizei zu sehen. Aber STASI beobachtet und filmt uns von dem Neubau an der Südecke des Platzes und den großen Kaufhäusern. Der Verkehr wird nicht behindert.
Ich sehe mich um. Es sind alle Altersgruppen und Schichten vertreten. Einfach die unterschiedlichsten Menschen mit dem gleichen Ziel: Wir wollen endlich freie, mündige Bürger sein. Nach einer Stunde formiert sich der erste Demonstrationszug in Halle. Wir gehen langsam mit unseren Kerzen an der Marktkirche (die heute aus Sicherheitsgründen geschlossen bleibt) vorbei zur Moritzkirche. Sie ist bereits überfüllt. Weiter zur Elisabethkirche. Dort findet 18.30 Uhr ein Friedensgebet statt. Dechant Herold spricht mit einfachen klaren Worten das aus, was uns alle bewegt. Gänsehaut als  ich zum ersten Mal Beifall, stürmischen Applaus in einer Kirche, einer katholischen Kirche, erlebe. 
 
Alle sind sich einig: Wir haben einen historischen Tag erlebt! Er  wird alles verändern. Die Honecker-Clique hat ausgespielt. OHNE GEWALT haben wir sie entmachtet. Wir lassen uns nicht mehr mit Erklärungen abspeisen,
WIR KLAGEN EIN !

Nach dem Gebet gehen wir zur Mahnwache St. Georgen und stellen unsere Kerzen zu den Hunderten, die bereits brennen. Viele Autos am Knoten 46 (zwischen den beiden Kirchen) hupen Solidarität.

Zu Hause dann die neuen Bilder aus Leipzig. Viele Zehntausende sind es dort. Weit über Hunderttausend im ganzen Land. Friedlich fordernd.


Donnerstag, 9. Oktober 2014

09.Oktober 1989

Wenn ich in diesem Lande was zu sagen hätte, wäre heute Feiertag! 
"Tag der Deutschen Einheit".
Denn wenn ein Tag wirklich wichtig war in der Geschichte der friedlichen Revolution, dann dieser Montag. Dieser 09.Oktober 1989. An diesem Tag wurden die Weichen gestellt für alles, was danach geschah!




"  9.25 Uhr schalte ich aktuelle „Aktuelle Kamera“ ein. Kein Wort über die Zustände in der DDR. 
Nur Blablabla. Man kann es nicht mehr hören! Das sage ich auch einer Kollegin meines Vertrauens, welche die ehrenvolle Aufgabe hat als BGL*-Mitglied die Meinungen der Belegschaft auszukundschaften. Ihr erzähle ich auch meine Erlebnisse und Gefühle in der Kirche und auf dem Markt am 7.Oktober.

Inzwischen weiß ich, wem ich Vertrauliches sagen kann und wer die STASI-Spitzel unter uns sind. Denen erzähle ich gewisse Dinge so, dass sie prompt dort hinkommen, wo sie gehört werden sollen. Ich habe es ausprobiert. Mit Erfolg.



Wir wollten heute nach Leipzig zur Demo fahren. Es war unmöglich. Unterwegs trafen wir eine Verwandte. Sie arbeitet im Hauptbahnhof und sagte uns, dass es keinen Sinn hätte. Es ist alles abgesperrt und es wird niemand auf den Bahnsteig Richtung Leipzig gelassen.

Viele Menschen in Ost und West bewegt heute nur eine Frage: Was wird in Leipzig passieren? Gibt es die ersten Toten?

 
Zu Hause sitzend werde ich immer ängstlicher. Erschreckend viele STASI-Leute vom Samstag sind meine Kunden. Sie kennen mich und wissen genau wo sie mich finden. Doch ich werde nicht abgeholt!

Abends stehe ich im Laden und schon die ersten Kunden kurz nach sieben erzählen mir von den Zuständen in Halle. Sie kommen jetzt erst von der Arbeit. Polizeiketten riegeln die Innenstadt ab. Straßenbahnen müssen am Markt durchfahren. Völlig Unbeteiligte werden geschlagen, es gibt zahlreiche Verletzte. Staatsterror!
Am schlimmsten trifft es die Besucher der Montagsmesse in der Marktkirche. 
Das bereits am Samstag befürchtetet tritt ein: Der enge Schlauch zwischen Treppe und Marktplatz, wird zur Falle. Der Notausgang der Kirche muss geöffnet werden und der Obermarkt ist absolut dicht. Dort wird willkürlich auf LKW verladen und abtransportiert. 
Menschenjagd in Halle. 
Ich fahre nach 21.00 Uhr zum Markt. Es ist relativ ruhig, aber schon allein das riesige Polizeiaufgebot erinnert mich fatal an Filmszenen aus der Nazizeit.



In Leipzig gab es einen „Aufruf zur Gewaltlosigkeit“.

Unterzeichnet von namhaften Bürgern der Messestadt, unter ihnen Kurt Masur
Die Vernunft siegte gegen Armee und Polizei.

Die Krankenhäuser und Leichenhallen blieben -Gott und den Menschen sei Dank- leer.

Zehntausende demonstrierten friedlich und lösten die Oktoberrevolution 1989 aus.

Damit wurde der Riesendruck von uns genommen. Unser Weg auf die Straße ist der Richtige.



In unseren Medien wird wieder über alles geschwiegen.

Keine Mitteilungen von den Demos in vielen großen Städten unseres Landes.

Nichts, absolut nichts.

Ohne ARD und ZDF wäre die Interessierte, Fragende hilflos."



* BetriebsGewerkschaftsLeitung

Auszüge aus: Wer zu spät kommt.... von M. Richter