Heute begann ein 5-Tage-Lehrgang der National-Demokratische Partei Deutschlands (NDPD). Das ist eine der Blockparteien. Ich nehme mit gemischten Gefühlen teil. Für mich steht fest: Wenn mich
das ganze nicht von der Notwendigkeit dieser Partei überzeugen kann, trete ich
aus. Es sind interessante Leute da und es wird offen diskutiert. Ich erfahre
viel Neues und bemerke, dass meine Worte und Ansichten konstruktiv sind.
Heute ist ein herrlicher Spätsommertag. Viel zu warm für
die Jahreszeit. Am Nachmittag gehe ich barfuss in Jesuslatschen zur DEMO.
Es sind bedeutend mehr Menschen da als vor einer Woche. Und
es gibt ganz viele Transparente: Reisefreiheit für alle.. Pressefreiheit.. u.v.a.m
Und es
geht los! Wir bleiben nicht auf dem Markt, sondern laufen die Leipziger Straße
hoch bis zum Kino. Dort versuchen Genossen in Schlips und Anzug mit uns zu
diskutieren. Keiner kennt sie und von hinten kommt der Ruf „Weiterlaufen“. Wir
gehen in Richtung Thälmann-Platz, am Klubhaus der Gewerkschaften vorbei. Mir
wird klar, wo es hingehen soll: zur Bezirksleitung der SED. Der berüchtigte 40 Millionen
teure Anbau, genannt „Cafe Böhme“ ist unser Ziel. Ob das gut gehen wird? Doch
wir sind mittendrin und wollen nicht mehr weg.
Wir laufen mitten auf der Straße. Der Verkehr Richtung
Neustadt ist gestoppt. Doch es gibt Lichtzeichen aus stehenden LKWs und lautes
Hupen als Beifall. Wir haben unsere Sprache wiedergefunden und rufen: „Schließt
euch an!“ und „Auf die Straße, auf die Straße!“ An der Fußgängerbrücke am
Thälmannplatz schaue ich zurück. Am Klubhaus ist Schluss? Das kann doch nicht
wahr sein. Wo sind die anderen?
Das „Cafe Böhme“ ist abgeriegelt. Kampfgruppe oder Polizei
im Drillich. Untergehakt bilden sie eine Menschenkette gegen uns. Was mag in
ihren Köpfen vorgehen? Sind wir die Konterrevolution? Mit stoischer Ruhe, aber
nicht unfreundlich, stehen sie uns gegenüber. Wir rufen nach Achim Böhme, dem
SED-Chef von Halle. Nichts, das Haus bleibt dunkel. In den Hochhäusern ringsum
sind die Menschen auf den Balkonen und an den Fenstern. „Schließt euch an!“ und
„Kommt runter!“ rufen wir. Die ersten Kerzen brennen in den Fenstern, spontan
kommen Leute herunter und reihen sich ein. Wir haben Kerzen vor die Postenkette
gestellt und gehen weiter in Richtung Rannischer Platz. Seit Jahren war ich
nicht hier und bin erschüttert! Tote Häuser, Abrissgegend. Ohne unsere Kerzen
würden wir die Hand vor Augen nicht sehen. Die Sprechchöre werden frecher.
Nach dem Rannischen Platz schere ich aus. Ich muss zur
Arbeit. Jetzt überhole ich den Zug. Der Steinweg ist von Straßenbahnen
verstopft. Nichts geht mehr!
Kurz vor dem Busbahnhof treffe ich die ersten aus dem
zweiten DEMO-Zug. Man hat uns absichtlich getrennt. Während wir zur
Bezirksleitung liefen, wurde der Rest am Leipziger Turm in Richtung
Fahnenmonument und Markt geschickt. Dort waren die Repräsentanten der Stadt zum
DIALOG bereit. Ein Straßenbahnfahrer erzählt über Megaphon seine Geschichte. Er
hatte als Zeichen der Solidarität eine Kerze in seine Fahrerkabine gestellt und
wurde daraufhin diszipliniert. Der Fahrdienstleiter hat ihm den Führerschein
entzogen.
Kurz vor der Kaufhalle kommt mir eine Kollegin entgegen.
Nanu? Woher, wohin? Ich bin spät dran. „Ich komme von der DEMO. Es sind viele
Leute da.“
Kommentar: "Oh oh, dann
weiß ich ja, dass mein Mann wieder erst spät kommt“.
Seine Schuld. Warum steht
er auf der falschen Seite?!
Viele Kunden sprechen mich an. Es gab zwei DEMOS. Und bei
mir gibt es das frische Montagsdemobrot und offene Gespräche gratis. Ich
vertrete meine Meinung, egal wer mir gegenübersteht. Ein Spiel mit dem Feuer,
sicherlich. Aber ich gehe das Risiko ein.
Auszug aus " Wer zu spät kommt... von M.Richter
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