Freitag, 24. Oktober 2014

Montag, 23.Oktober 89




Heute begann ein 5-Tage-Lehrgang der National-Demokratische Partei Deutschlands (NDPD). Das ist eine der Blockparteien. Ich nehme mit gemischten Gefühlen teil. Für mich steht fest: Wenn mich das ganze nicht von der Notwendigkeit dieser Partei überzeugen kann, trete ich aus. Es sind interessante Leute da und es wird offen diskutiert. Ich erfahre viel Neues und bemerke, dass meine Worte und Ansichten konstruktiv sind.

Heute ist ein herrlicher Spätsommertag. Viel zu warm für die Jahreszeit. Am Nachmittag gehe ich barfuss in Jesuslatschen zur DEMO.
Es sind bedeutend mehr Menschen da als vor einer Woche. Und es gibt ganz viele Transparente: Reisefreiheit für alle.. Pressefreiheit.. u.v.a.m  
Und es geht los! Wir bleiben nicht auf dem Markt, sondern laufen die Leipziger Straße hoch bis zum Kino. Dort versuchen Genossen in Schlips und Anzug mit uns zu diskutieren. Keiner kennt sie und von hinten kommt der Ruf „Weiterlaufen“. Wir gehen in Richtung Thälmann-Platz, am Klubhaus der Gewerkschaften vorbei. Mir wird klar, wo es hingehen soll: zur Bezirksleitung der SED. Der berüchtigte 40 Millionen teure Anbau, genannt „Cafe Böhme“ ist unser Ziel. Ob das gut gehen wird? Doch wir sind mittendrin und wollen nicht mehr weg.

Wir laufen mitten auf der Straße. Der Verkehr Richtung Neustadt ist gestoppt. Doch es gibt Lichtzeichen aus stehenden LKWs und lautes Hupen als Beifall. Wir haben unsere Sprache wiedergefunden und rufen: „Schließt euch an!“ und „Auf die Straße, auf die Straße!“ An der Fußgängerbrücke am Thälmannplatz schaue ich zurück. Am Klubhaus ist Schluss? Das kann doch nicht wahr sein. Wo sind die anderen?

Das „Cafe Böhme“ ist abgeriegelt. Kampfgruppe oder Polizei im Drillich. Untergehakt bilden sie eine Menschenkette gegen uns. Was mag in ihren Köpfen vorgehen? Sind wir die Konterrevolution? Mit stoischer Ruhe, aber nicht unfreundlich, stehen sie uns gegenüber. Wir rufen nach Achim Böhme, dem SED-Chef von Halle. Nichts, das Haus bleibt dunkel. In den Hochhäusern ringsum sind die Menschen auf den Balkonen und an den Fenstern. „Schließt euch an!“ und „Kommt runter!“ rufen wir. Die ersten Kerzen brennen in den Fenstern, spontan kommen Leute herunter und reihen sich ein. Wir haben Kerzen vor die Postenkette gestellt und gehen weiter in Richtung Rannischer Platz. Seit Jahren war ich nicht hier und bin erschüttert! Tote Häuser, Abrissgegend. Ohne unsere Kerzen würden wir die Hand vor Augen nicht sehen. Die Sprechchöre werden frecher.

Nach dem Rannischen Platz schere ich aus. Ich muss zur Arbeit. Jetzt überhole ich den Zug. Der Steinweg ist von Straßenbahnen verstopft. Nichts geht mehr!

Kurz vor dem Busbahnhof treffe ich die ersten aus dem zweiten DEMO-Zug. Man hat uns absichtlich getrennt. Während wir zur Bezirksleitung liefen, wurde der Rest am Leipziger Turm in Richtung Fahnenmonument und Markt geschickt. Dort waren die Repräsentanten der Stadt zum DIALOG bereit. Ein Straßenbahnfahrer erzählt über Megaphon seine Geschichte. Er hatte als Zeichen der Solidarität eine Kerze in seine Fahrerkabine gestellt und wurde daraufhin diszipliniert. Der Fahrdienstleiter hat ihm den Führerschein entzogen.

Kurz vor der Kaufhalle kommt mir eine Kollegin entgegen. Nanu? Woher, wohin? Ich bin spät dran. „Ich komme von der DEMO. Es sind viele Leute da.“ 
Kommentar:  "Oh oh, dann weiß ich ja, dass mein Mann wieder erst spät kommt“. 

Seine Schuld. Warum steht er auf der falschen Seite?!
Viele Kunden sprechen mich an. Es gab zwei DEMOS. Und bei mir gibt es das frische Montagsdemobrot und offene Gespräche gratis. Ich vertrete meine Meinung, egal wer mir gegenübersteht. Ein Spiel mit dem Feuer, sicherlich. Aber ich gehe das Risiko ein.

Auszug aus " Wer zu spät kommt... von M.Richter



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