Montag, 10. November 2014

Freitag, 10.November 89



Freitags ist immer mein freier Tag. Geplant war nach Leizig zur MMM (Messe der Meister von Morgen) zu fahren, weil meine Tochter zusammen mit anderen Kommilitonen dort ausstellt. Aber  Leipzig geht immer. Wir wollen nach Berlin!

Seit vier Uhr morgens stehen Menschenschlangen vor dem VPKA

(Volks-Polizei-Kreis-Amt) nach Visa an.  Die  Linientreuen ganz vorn.

In der Kaufhalle gibt es nur ein Thema: Wann fährst du rüber? 
Wir sind uns einig: sofort und ohne Visa. Wir probieren es einfach aus.

Mittags sitzen wir im Zug nach Berlin. Er ist leer und pünktlich.

Von Lichtenberg fahren wir mit der S-Bahn Richtung Prenzelberg, weil ich denke der Grenzübergang Bornholmer Straße ist günstig. Denkste! Alles total überfüllt.
Eine Lautsprecherdurchsage: „Bitte benutzen Sie die anderen Übergänge!“ Beinahe endet unser Blitzbesuch hier mit einem handfesten Krach. Zu Fuß machen wir uns auf Richtung Westen. Durch unbekannte Straßen, die Sonne ist schon am Sinken, immer in Richtung Übergang Invalidenstraße.

Um 16 Uhr haben wir es geschafft! Aber kein Vergleich zum Sommer. Autostau bis zur Ständigen Vertretung, Menschen über Menschen. Während sich die Schlange zügig vorwärts bewegt, erinnere ich mich an den August und kann immer noch nicht glauben, was hier passiert: 
Ringsum lachende, glückliche, aufgeregte Menschen und freundliche Beamte.



Wir haben das Tor erreicht. Ein Blick in unsere Ausweise, kein Stempel. Leider! Wie sollen wir jetzt beweisen, dass wir heute hier sind? Um Fünf sind wir in Westberlin. Ein Spalier von klatschenden, „Willkommen“ rufenden Berlinern, Blumen oder Sekt in den Händen, empfängt uns. 

ICH HABE TRÄNEN IN DEN AUGEN UND KRIBBELN IM BAUCH !! 

Wir sind auf der bunten Seite der Mauer. Wer hätte das geglaubt?

Gehofft haben wir, dass es einmal so sein könnte, als wir konterrevolutionär geschimpft wurden und Staatsfeinde waren. Am 16.Oktober auf dem Markt in Halle mit Kerzen in den Händen und Angst im Nacken. Videokameras ringsum. 

DREI MONATE NACH MEINEM TRAUM: EINFACH HINGEHEN, DURCHGEHEN UND WIEDERKOMMEN, BIN ICH HIER!!!                WAHNSINN!!!!! 

Wir laufen zum Lehrter Bahnhof, zur S- Bahn. Die Erste ist übervoll. Aber wir haben schon einen Plan der Verkehrsverbindungen in Berlin - West und ein Extra- Blatt des „Tagesspiegel“. Alle fahren zum Bahnhof Zoo, wir nicht. Unser Ziel ist Charlottenburg. Noch nie im Westen, aber trotzdem intuitiv richtig gehandelt. Wahrscheinlich, weil wir nicht den Konsum suchen. Wir wollen Land und Leute kennen lernen.

Doch auch wir brauchen dazu Geld. Die Sparkasse am U- Bahnhof Wilmersdorfer Straße ist nicht sehr voll. 17.45 Uhr haben wir jeder einen nagelneuen 100-DM-Schein in den Händen. Und nun? Heute ist Donnerstag! Natürlich wollen wir auch wir einige Geschenke, Erinnerungen mitnehmen.
In 45 Minuten ist Geschäftsschluss. Also keine Zeit lange zu suchen. Wir gehen zu KARSTADT. Fünf Etagen, Rolltreppen auf- und abwärts, ungewohnte Warenfülle und es riecht überall...wie Weihnachten.

Ich suche einen Walkman für meinen Sohn. In der Radioabteilung ist alles zu teuer. In der Spielwarenetage werde ich fündig. Schnell noch ein paar Süßigkeiten für alle. Weihnachtskalender 1,99 DM, Schokolade 0,79 DM usw. Ich bezahle 12 DM für einen Beutel voll.

Feierabend! Die gestressten, aber dennoch freundlichen Verkäufer bitten zum Ausgang. Vor dem Kaufhaus ist ein türkischer Obst- und Gemüsestand. Bananen sind ausverkauft.....Ich kaufe Klementinen, bezahle zuviel. Doch das werde ich erst viel später feststellen.


Was nun, wohin in dieser fremden Stadt? Wo ist der KU-DAMM?

Das war es doch: Einmal im Leben auf dem Kurfürstendamm bummeln! Wir laufen einfach los. Gehen an geschlossenen Läden vorbei. HERTIE und WOOLWORTH, ALDI und C&A, KAISERS u.v.a.m.
In kurzen Abständen Imbissbuden. Einheitliche Preise: alle Getränke1,50 DM, die Currywurst 1,99 DM. Links ein Schnellrestaurant, nicht Mc Donalds, aber Hamburger gibt es auch hier. Wir haben noch MITROPA- Brötchen und Kaffeedurst. An einem kleinen Stand wärmen wir uns auf und kommen mit den Leuten ins Gespräch. Der Kaffee ist gut und kostenlos. Ein kleiner Fernseher läuft. Wir haben den ganzen Tag noch keine Nachrichten gehört oder gesehen. Das holen wir jetzt nach. „Der Run auf die Grenzen hat eingesetzt. – Immer noch Leute auf der Mauer. – Die Stimmung ist aggressiver.“


Bahnhof Charlottenburg. Hier sehen die Geschäfte schon etwas anders aus. Second-Hand-Shops und Pornokinos. Kurzentschlossen gehen wir in eins hinein. Warum denn nicht? Alt genug sind wir geworden, bevor wir es durften. Muschebubu- Beleuchtung und 6 DM für eine Cola. Auf der Leinwand nichts neues für aufgeschlossene Enddreißiger. Enttäuscht sind wir nicht, man muss alles mal gesehen und erlebt haben. 

Weiter!

Am Savigny - Platz sind wir arg pflastermüde und durchgefroren. Eine Pizzeria lockt. Die Preise sind akzeptabel. Es wird eine schöne Stunde. Wir trinken Kaffee, hören leise Musik und fühlen uns irgendwie zu Hause. Es ist warm und gemütlich. Wir werden sehr gut bedient, obwohl eine Schachtel F6 auf dem Tisch liegt und auch wir die unvermeidlichen Einkaufstüten bei uns haben.

Wir sind uns einig: Wir könnten auch in Berlin-Ost sitzen. Es gibt sehr große und gar keine Unterschiede zwischen Savigny- Platz und Köpenick. Ich esse eine Pizza mit Pilzen. Ein Riesending, aber ich schaffe sie. Aufgewärmt und satt brechen wir wieder auf.

Irgendwie sind wir plötzlich da. Stehen vor der Gedächtniskirche. Hier war vor einigen Stunden eine Kundgebung mit Kanzler Kohl. Er wurde ausgepfiffen. Der Ku-Damm gefällt uns nicht. Zu viele Menschen, die noch nicht gelernt haben mit ihrer neuen Freiheit umzugehen. Nach einem kurzen Stück Glitzerwelt, weichen wir aus. Gehen andere Wege, am Bahnhof ZOO vorbei in Richtung Brandenburger Tor. Über den Landwehrkanal, ich sehe die Schilder zur Erinnerung an Rosa und Karl – dann Park. Wir sehen schon die Siegessäule und sind erstaunt und beeindruckt. Vom Osten wirkte sie kleiner.


Die Straße des 17.Juni. Weit hinten noch, das Brandenburger Tor. Irgendwie wird uns immer  mulmiger. Hier sind fast keine DDR-Leute, hier sind schaulustige Touristen. Sie wollen auf keinen Fall den historischen Moment verpassen. Quer über die sehr breite Straße stehen die Übertragungswagen der Fernsehanstalten aus aller Welt. ARD und ZDF, RTL vor allem aber ABC und die anderen Amerikaner. Riesige Scheinwerfer leuchten alles farbfernsehgerecht aus. Wir sind innerhalb der Absperrung, um nicht erdrückt zu werden, stehen zwischen den Reportern.

Direkt vor uns die bunte Mauer. Die Menschen darauf, dicht gedrängt mit Sektflaschen in den Händen. Einer versucht mit dem Hammer die stabile Betonmauer zu zerstören. Eine Disco heizt ein.


Plötzlich haben wir Gänsehaut. Wir halten uns an den Händen und haben Angst!

Angst, dass das, was wir sehen, umkippt in Gewalt. Aber es ist eine andere Angst als in Halle auf dem Markt. Es ist Todesangst.


Weg hier, nichts wie weg! Wir gehen an der Mauer entlang in Richtung Reichstag. Es ist nach Mitternacht und wir hören Sirenen von Polizei oder Krankenwagen. Gehen an den Kreuzen für die Mauertoten vorbei und entschließen uns noch einmal in die Wilmersdorfer Straße zu fahren.

Wir wollen die erschreckenden Bilder vergessen. Zurück zu den freundlichen Berlinern, noch mal zu dem Imbissstand. Auf dem Weg zum Brandenburger Tor hatten wir die neue BILD- Zeitung bekommen und schwatzen jetzt über die Aufmachung.Typisch BILD. Schwarz-rot-gold umrandet. Balkenüberschrift:

DEUTSCHLAND UMARMT SICH ! EINIGKEIT UND RECHT UND FREIHEIT !

Darunter ein großes farbiges Bild von den Menschen auf der Mauer.

„Das Unvorstellbare ist Wirklichkeit geworden – Berliner aus Ost und West haben die Mauer erklommen, verharren ergriffen, viele mit Tränen in den Augen. Das Brandenburger Tor – 28 Jahre lang Symbol der Teilung – ist wieder das, was es immer war – Symbol der Einheit.“



Ein Mann mit Pommes und Majo spricht uns an: „Woher kommt ihr? Aus Halle? Aha!...Ihr habt das gut gemacht dort in der DDR. Das Volk hat gesiegt...Fahrt Ihr wieder zurück? Natürlich.... Ich fahre ja auch wieder nach Kopenhagen.“ Wir können ganz normal miteinander umgehen.


Genau 1.15 Uhr steigen wir in Charlottenburg in die S-Bahn Richtung Friedrichstraße. Am Bahnhof Zoo wird sie voll. Die Züge aus dem Osten sind noch voller. Alles drängt nach Westberlin. Wir fahren zurück, haben den anderen das Erlebnis der zweiten Nacht der offenen Grenzen voraus.

Dann in einer Minute der Wechsel von West nach Ost. Keine Kontrolle. Kein Stempel, nichts. Vorbeigewinkt an den Türen der Zollabfertigung.

Plötzlich stehen wir vor dem bekannten Aufgang.

Nach der unbestimmten Angst nicht wieder einreisen zu dürfen, (die wir beide heimlich hatten) jetzt übereinstimmende Meinung: Ohne Kontrollen darf es nicht bleiben!

Als erstes fällt uns der Schmutz auf. So sah es in Westberlin nur aus, wo DDR-Bürger die „Freiheit“ genossen hatten. Bis Charlottenburg war die Welle noch nicht geschwappt. Dort war es noch sauber. Sogar auf den Gleisen. Sauberer Kies, keine Zigarettenkippen. Was sind wir nur für Menschen?


2.20 Uhr fährt unser Zug nach Halle. Er kommt von der Küste und ist sehr voll. Als wir einsteigen ist er leer. Lets go west! Ein Volk ist aufgebrochen seine Nachbarn im Westen „heimzusuchen“.



Samstag, 11.November

Um 6.00 Uhr stehe ich mit meinen KARSTADT- Beuteln zwischen meinen Kolleginnen und melde mich zurück. Häääääääääää? Ungläubiges Staunen!

Und dann: „WIE WARS???

Wahnsinnig schön und noch nicht verarbeitet. Zu Hause wecke ich meinen Sohn, nehme ihn in die Arme und wir heulen beide los wie zwei Schlosshunde. Dann packe ich aus.

Die beste Meldung des Tages ist für mich, dass Polizisten aus Ost und West gemeinsam die Mauer geräumt haben, nachdem es die ersten Verletzten gab.

Der Anfang ist gemacht!



aufgeschrieben im Herbst und Winter 1989.

1.Abschrift Januar 1990

2.Abschrift und Bearbeitung Sommer 1990.

In den Computer geschrieben vom 25.-29. Juni 2008. 7300 Wörter.

Viele Formulierungen und sind aus heutiger Sicht altmodisch oder ideologisch. Das war mir nicht bewusst, steckt aber wahrscheinlich in allen im Osten Aufgewachsenen drin.



Auszug aus " Wer zu spät kommt... von M.Richter

Sonntag, 9. November 2014

Donnerstag, 9.November 89




9.November. Dieser Tag ist kein Tag wie jeder andere. Revolution 1918, Reichskristallnacht 1938 und mehr sind mit diesem Datum verbunden. 
Niemand ahnt um kurz vor Sieben, dass wir heute einen historischen Tag erleben werden.

Ich bin im Spätverkauf und fülle die Regale auf und punkt sieben mache ich die Klappe hoch! Im Radio laufen die Nachrichten. Die Pressekonferenz am Abend nach der 10.Tagung des ZK. Schabowski beantwortet die Frage eines Journalisten nach den Reisemöglichkeiten reichlich konfus. Das wird unterschiedlich interpretiert. 
Meine späteren Kunden überraschen mich mit der Neuigkeit: Die Mauer ist weg/ gefallen! oder  Wir können reisen!  Mein Kommentar: "Erst mal abwarten!"

Doch dann überschlagen sich beim RIAS die Meldungen. Man kann einfach mit dem Ausweis über die Grenze. Alle sind überrumpelt und überfordert. 
Vor allem Zoll und Grenzbeamte. Völlig unvorbereitet stehen sie plötzlich Menschen aus Ost und West gegenüber, die es selbst ausprobieren wollen. Einmal Ku- Damm und zurück, eine Molle am Alexanderplatz. 
Es wird die Nacht der offenen Grenzen. Die Nacht der glücklichen Berliner in der 28 Jahre geteilten Stadt. Feiernde Menschen auf der Mauer! Trabbis auf dem Kurfürstendamm! Die Straße des 17.Juni total verstopft.
WIR SIND EIN VOLK! DAS IST EINFACH WAHNSINN!!!

Wir sitzen in Halle-Neustadt in der ersten Reihe und glauben kaum, was wir hören und sehen. 
Wird es so bleiben oder ist es morgen vorbei ??? Wir müssen nach Berlin!

 Auszug aus " Wer zu spät kommt... von M.Richter

Dienstag,7.November 89



Am Abend ist die Regierung zurückgetreten und hat damit bei unseren Bürgern noch mehr Verwirrung gestiftet. Auch ein Appell von Christa Wolf zum hier bleiben nützt nichts mehr. 
Warum sollten wir? Um zu arbeiten, arbeiten, arbeiten? Das können wir auch drüben.


Mittwoch,8.November 89

Stand der Übersiedler seit dem 11.September 89 fast 100.000

Heute begann die 10.Tagung des ZK. Das alte Politbüro ist geschlossen zurückgetreten. Der einzige interessante Mann im neuen ist Hans Modrow.
In Halle schlagen die Wogen der Erregung hoch. Achim Böhme sitzt mit 66 Gegenstimmen auch in diesem Verein. Mittag und Hermann werden ausgeschlossen.

Donnerstag, 6. November 2014

Montag, 6. November 89


Heute wird ein wichtiger Tag in unserer Geschichte.

Ich fühle das schon am Morgen, als ich die Zeitung aufschlage und dieses Reisegesetz im alten Politbürostil lese. Die Politik der kleinen Zugeständnisse soll weitergehen.

Aber nicht mit uns! Das Volk wird in Massen auf der Straße sein.



Am Nachmittag gehe ich wieder zum „Gebet für unser Land“.

Die Marktkirche war noch nie so voll. Dichtgedrängt stehen die verunsicherten Menschen und  wollen jetzt wissen, was die Kirchenvertreter zu sagen haben.

Wohin geht unser Land? In die Katastrophe?


Es gibt fast niemanden mehr, der in den letzten Tagen nicht Abschied von Verwandten oder Freunden nehmen musste. Allein in unserer kleinen Kaufhalle sind heute früh 3 Kollegen nicht zur Arbeit erschienen. Die Frau eines Kollegen rief an und fragte nach ihm. Er ist mit seiner Freundin weg.

Aber auch Frauen bringen das fertig. Lassen einfach ihre Kinder im Stich! Familientragödien tausendfach.



Das Gebet ist heute nur kurz. Aktuelles überwiegt. Jeder kann nach vorn gehen und seine Erlebnisse, Hoffnungen und Wünsche vortragen. Unglaubliches wird berichtet, aber es ist doch die schlimme Wahrheit. Als ich endlich den Ausgang erreicht habe, ist der Markt bereits voller Menschen. Meinen Freund finde ich in diesem Gedränge nicht. Sehr langsam geht es vorwärts. Die Straßenbahnen sind eingekeilt und als ich in Höhe „Cafe am Markt“ bin, geht absolut nichts mehr. Von hinten wird gedrängelt, aber vorn ist kein Platz mehr. Ich habe Angst zerquetscht zu werden.
Die Kundgebung beginnt eher als geplant. Es ist sehr neblig, nasskalt und jetzt fängt es auch noch an zu regnen. Doch die Stimmung ist heiß. Achim Böhme, der Sekretär der Bezirksleitung, stellt sich und wird erneut ausgebuht und ausgepfiffen. Auf die Frage, warum er so ein großen Westauto fährt, antwortet er: „Ich habe die ganzen Jahre für diesen Staat gearbeitet und deshalb das Recht so zu leben!“



Riesentumult bricht los. Nur seine Sicherheitsleute können ihn vor der, mit Recht,
aufgebrachten Menge schützen. Haben wir etwa nicht gearbeitet? Doch, aber wir sind 40 Jahre ausgebeutet worden von vielen, viel zu vielen Böhmes.


Rechtlos, geknechtet, bespitzelt.
So klar wie heute, war es den meisten noch nie





Schätzungsweise 100.000 Hallenser protestieren heute. In Leipzig sind es etwa 500.000 Demonstranten. Im ganzen Land weit über eine Million. Dieses Signal kann man nicht mehr übersehen. Die Regierung ist zum Handeln gezwungen!



 Auszug aus " Wer zu spät kommt... von M.Richter
 

Dienstag, 4. November 2014

Wochenende 4./5.November 89




Dieses Wochenende wird schlimm. Die Leute sind gereizt. 
Viele nette Kunden verabschieden sich für immer. 
Auch ich stehe unter starkem psychischen Druck. Mein Freund will gehen. Ich nicht! 
Aber vielleicht hat doch er recht? Was sollen wir tun? Wie wird es hier weitergehen? 
Eine lähmende Unsicherheit beherrscht uns alle. Die Staatsmacht ist am Ende.

Am Sonntag wird die erste genehmigte Demo in Berlin live im Fernsehen übertragen. Etwa 500.000 Menschen sind auf dem Alexanderplatz und hören mehrere Stunden, was 40 Jahre nicht gesagt werden durfte. Regimekritiker und Künstler melden sich zu Wort. Aber auch Markus Wolf und viele alte Genossen.

Ein Reisegesetzentwurf wird angekündigt.

Die Botschaft in Prag wird erneut geräumt. 6000 gehen nur mit dem Personalausweis in die Bundesrepublik. Die CSSR hat die Grenze geöffnet, um den Umweg Prag zu vermeiden. Wie müssen die Tschechen die Massenflucht empfinden? Signalwirkung wird befürchtet. Einige DDR-Bürger nutzen die offene Grenze zu Ausflügen nach Bayern. Sie zeigen, was wir doch eigentlich nur wollen: Reisen, Land und Leute kennen lernen und dann mit neuer Kraft an die Arbeit in der Heimat.
 
Seit Öffnung der ungarischen Grenze am 11.September 89 sind mehr als 50.000 DDR-Bürger ausgereist.

Überall werden DIALOGE geführt.

Montag, 3. November 2014

Mittwoch, 1.November 89









Heute wird die Grenze zur CSSR wieder geöffnet. Was wird geschehen? Das Gefängnis DDR hat wieder eine Tür in die Freiheit.
 
Freitag,3.November 89

Ein Schicksalstag.
Es war vorherzusehen. Der Massenexodus geht weiter. Die Botschaft in Prag ist wieder überfüllt. 
Die Lage im Land ist außerordentlich kritisch. Egon war in Warschau und Moskau. 
Harry Tisch ist endlich zurückgetreten worden.

In Suhl und Gera wurden die 1.Sekretäre der SED-BL abgelöst! Achim Böhme stellte sich gestern Abend den Hallensern auf dem Markt, nachdem er sich zweimal in seinem Prachtbau verbarrikadiert hatte. Er konnte niemanden überzeugen. Das Vertrauen in diese Leute, in diese Partei ist nicht mehr da.
Im Fernsehen wieder unvorstellbare Bilder von fliehenden Menschen.

Am Abend appelliert Egon Krenz in Funk und Fernsehen an Alle.
Diesmal benutzt er die Anrede: Liebe Zuschauer!
„In einer kritischen Zeit wende ich mich an alle Bürger der DDR und an alle Mitglieder der SED....Die politische Wende, die wir eingeleitet haben, erfasst inzwischen alle Bereiche unserer Gesellschaft. etc pp“

Egon und seine Partei haben die Wende eingeleitet. Schon allein der  Satz bringt nicht nur mich in Rage und zusammen sind wir stark.

 Auszug aus " Wer zu spät kommt... von M.Richter