Donnerstag, 6. November 2014

Montag, 6. November 89


Heute wird ein wichtiger Tag in unserer Geschichte.

Ich fühle das schon am Morgen, als ich die Zeitung aufschlage und dieses Reisegesetz im alten Politbürostil lese. Die Politik der kleinen Zugeständnisse soll weitergehen.

Aber nicht mit uns! Das Volk wird in Massen auf der Straße sein.



Am Nachmittag gehe ich wieder zum „Gebet für unser Land“.

Die Marktkirche war noch nie so voll. Dichtgedrängt stehen die verunsicherten Menschen und  wollen jetzt wissen, was die Kirchenvertreter zu sagen haben.

Wohin geht unser Land? In die Katastrophe?


Es gibt fast niemanden mehr, der in den letzten Tagen nicht Abschied von Verwandten oder Freunden nehmen musste. Allein in unserer kleinen Kaufhalle sind heute früh 3 Kollegen nicht zur Arbeit erschienen. Die Frau eines Kollegen rief an und fragte nach ihm. Er ist mit seiner Freundin weg.

Aber auch Frauen bringen das fertig. Lassen einfach ihre Kinder im Stich! Familientragödien tausendfach.



Das Gebet ist heute nur kurz. Aktuelles überwiegt. Jeder kann nach vorn gehen und seine Erlebnisse, Hoffnungen und Wünsche vortragen. Unglaubliches wird berichtet, aber es ist doch die schlimme Wahrheit. Als ich endlich den Ausgang erreicht habe, ist der Markt bereits voller Menschen. Meinen Freund finde ich in diesem Gedränge nicht. Sehr langsam geht es vorwärts. Die Straßenbahnen sind eingekeilt und als ich in Höhe „Cafe am Markt“ bin, geht absolut nichts mehr. Von hinten wird gedrängelt, aber vorn ist kein Platz mehr. Ich habe Angst zerquetscht zu werden.
Die Kundgebung beginnt eher als geplant. Es ist sehr neblig, nasskalt und jetzt fängt es auch noch an zu regnen. Doch die Stimmung ist heiß. Achim Böhme, der Sekretär der Bezirksleitung, stellt sich und wird erneut ausgebuht und ausgepfiffen. Auf die Frage, warum er so ein großen Westauto fährt, antwortet er: „Ich habe die ganzen Jahre für diesen Staat gearbeitet und deshalb das Recht so zu leben!“



Riesentumult bricht los. Nur seine Sicherheitsleute können ihn vor der, mit Recht,
aufgebrachten Menge schützen. Haben wir etwa nicht gearbeitet? Doch, aber wir sind 40 Jahre ausgebeutet worden von vielen, viel zu vielen Böhmes.


Rechtlos, geknechtet, bespitzelt.
So klar wie heute, war es den meisten noch nie





Schätzungsweise 100.000 Hallenser protestieren heute. In Leipzig sind es etwa 500.000 Demonstranten. Im ganzen Land weit über eine Million. Dieses Signal kann man nicht mehr übersehen. Die Regierung ist zum Handeln gezwungen!



 Auszug aus " Wer zu spät kommt... von M.Richter
 

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