"In der "Freiheit", unserer Tageszeitung, erscheint heute
folgendes Interview mit dem Chef der Prügelpolizei:
Gemeinsam mit den Bürgern für Ruhe und Ordnung sorgen
Interview mit dem Leiter des VPKA, Oberst Jahnke
FRAGE: Es gibt Gerüchte,
daß es am Montagabend in Halle zu gewalttätigen Ausschreitungen
gekommen sei. Was ist dazu zu sagen?
ANTWORT: Es hat so was
nicht gegeben. Wer von „gewalttätigen Ausschreitungen“ spricht, der war
entweder nicht dabei oder redet nur nach, was er in westlichen Medien gehört
hat.
Tatsächlich war die Sache so, daß sich am späten Nachmittag vor der
Markt-Kirche etwa 400 Leute angesammelt hatten, die dort zum Teil mit
brennenden Kerzen standen. Einige von ihnen entrollten Transparente und gaben
so dem Ganzen den Charakter einer Demonstration, die nicht genehmigt war. Wir
forderten diese Bürger auf, die Transparente zu entfernen- und damit die
Demonstration zu beenden. Als sie das
getan hatten, ging die Gruppe von sieben Volkspolizisten wieder, was so
„gewalttätig“ war, daß es sogar mit Beifall quittiert wurde. Während ein Teil der
Versammelten am Gottesdienst teilnahm, formierten sich andere erneut zu einer
Demonstration, die den
Verkehr behinderte und die
Passanten auf dem Nachhauseweg beeinträchtigte. Wir haben daraufhin über
Megaphon gebeten, den Marktplatz zu verlassen. Dieser Aufforderung kamen ca.
200 Personen, vorwiegend Jugendliche, nicht nach. Angehörige der Volkspolizei
sorgten für die gewaltlose Auflösung der Ansammlung. Es konnte also keine
Verletzten geben.
FRAGE: Welche
polizeilichen Maßnamen haben sie noch eingeleitet?
ANTWORT: 37 Jugendliche
mußten sich wegen Störung der öffentlichen Ordnung zur Überprüfung Ihrer
Personalien mit auf die VP-Dienststelle kommen, sie wurden belehrt und wieder
entlassen.
FRAGE: Wie ist überhaupt
Ihr Standpunkt zu dieser Problematik?
ANTWORT: Wir haben die
Aufgabe, die öffentliche Ordnung und Sicherheit im Interesse aller Bürger zu
gewährleisten. Das tun wir mit großem Einsatz, pausenlos zu jeder Zeit, durch
die Genossen der Volkspolizei, durch die Angehörigen der Feuerwehr, durch die
Mitarbeiter der Kriminalpolizei, durch die Abschnittsbevollmächtigten in den
Wohngebieten und natürlich durch die Genossen der Schutzpolizei. Jeder weiß,
dass das im vertrauensvollen Miteinander von Volkspolizei und Bürgern geht. Wer
jedoch Krawalle inszeniert, die öffentliche Ordnung verlässt, das Leben unserer
Bürger gefährdet, muß mit der Härte des Gesetztes rechnen.
Nach der Erklärung des
Politbüros des Zentralkomitees der SED vom
11. Oktober 1989 können
die lancierten Gerüchte über angeblich gewalttätige
Auseinandersetzungen in
Halle nur so zu verstehen sein, daß weiter angeheizt werden soll.
In der Erklärung des
Politbüros heißt es: „Die Probleme der weiteren Entwicklung des Sozialismus in
der DDR lösen wir selbst- im sachlichen Dialog und im vertrauensvollen
Miteinander. Die sozialistische Arbeiter- und- Bauern-Macht ist von niemanden
erpreßbar.
Wer bewußt die
Konfrontation sucht und schürt, der hat nicht die Interessen des Volkes im
Sinn, der beeinträchtigt das gesellschaftliche Leben und verfolgt sehr
eigennützig politische Ziele. Wer verantwortungslos Ruhe und Ordnung stört, der
muß sich fragen lassen, wessen Geschäft er betreibt und ist, die Sicherheit von
Bürgern, ihren Familien und nicht zuletzt ihrer für
wen er bereit Kinder aufs Spiel zu setzen. Ich bin überzeugt, daß
der Rat der Stadt Halle und sein Oberbürgermeister stets bereit sind, die
Diskussion mit allen zu führen, denen das Wohl und Wehe der Bürger am Herzen
liegt. Dazu bedarf es guten Willens. Die Gespräche sollten im vernünftigem
Rahmen und nicht durch Straßenaktionen geführt werden.“
Er lügt das Blaue vom Himmel. In seiner Stadt ist fast
nichts passiert. Tausende Bürger haben sich geirrt, Ärzte keine Verletzungen
gesehen. Kein Wort vom größten Polizeiaufgebot seit dem 17.Juni 1953.
Lügen,
immer wieder Lügen.
Für den nächsten Montag habe ich unter einem Vorwand meinen
Haushaltstag beantragt. Es ist immer noch schwierig den wahren Grund zu nennen.
Sicher hätte ich dann nicht frei, sondern die STASI am Hals.
Egal was passiert:
Am Montag sind wir dabei!
Ich bewundere den Mut der meist jungen Leute, die dort
unter massiver Bewachung Tag und Nacht ausharren. Ich kaufe Kerzen, stelle sie
zu den anderen, tapfer gegen den Wind ankämpfenden, auf die Mauer."
Ich habe im Internet Fotos aus diesen Tagen gefunden. Aber die kann ich nicht zeigen. Deshalb hier ein Link: https://snapshot-photography.spratshop.com/#s//2974/628368
Montag,
16.Oktober 89
Gegen 16.30 Uhr fahren wir in die Altstadt. Meinem Sohn
sage ich nur: „Mach dir keine Sorgen. Wir kommen bestimmt wieder.“
Sicher bin ich mir allerdings nicht.
Auf dem Markt werden Zettel verteilt. Gestern war in der
Pauluskirche eine Bürgerversammlung und ein Ergebnis ist der folgende
AUFRUF ZUR GEWALTLOSIGKEIT
IN UNSERER STADT
Gewalt ist kein Mittel zur
Lösung von gesellschaftlichen
Konflikten.
Angesichts der aktuellen
Situation in unserer Stadt halten wir jetzt für das Wichtigste:
1. Selbstverpflichtung zur
strikten Gewaltfreiheit
2. Keine Gewalt der
Sicherheitsorgane gegen die Teilnehmer friedlicher Zusammenkünfte
3. Keine Diffamierung und
Kriminalisierung von reformengagierten Personen und Gruppen
4. Offene und
wahrheitsgetreue Berichterstattung in den Medien
5. Versammlungs- und
Redefreiheit
6. Bereitstellung von
Räumen und Plätzen zur öffentlichen Diskussion
(zum Beispiel in
Klubhäusern, Jugendklubs und auf städtischen Freianlagen)
Halle/Saale, den
15.Oktober 1989 Bürgerversammlung
in der Pauluskirche
Mit dem Schlagen der Uhr im Roten Turm um Fünf beginnt die
Kundgebung. Schweigend stehen wir und mit uns vielleicht 3000 ? - Blumen oder
Kerzen in den Händen- auf dem Markt. Es ist keine Polizei zu sehen. Aber STASI
beobachtet und filmt uns von dem Neubau an der Südecke des Platzes und den
großen Kaufhäusern. Der Verkehr wird nicht behindert.
Ich sehe mich um. Es sind alle Altersgruppen und Schichten
vertreten. Einfach die unterschiedlichsten Menschen mit dem gleichen Ziel: Wir
wollen endlich freie, mündige Bürger sein. Nach einer Stunde formiert sich der
erste Demonstrationszug in Halle. Wir gehen langsam mit unseren Kerzen an der
Marktkirche (die heute aus Sicherheitsgründen geschlossen bleibt) vorbei zur
Moritzkirche. Sie ist bereits überfüllt. Weiter zur Elisabethkirche. Dort
findet 18.30 Uhr ein Friedensgebet statt. Dechant Herold spricht mit einfachen
klaren Worten das aus, was uns alle bewegt. Gänsehaut als ich zum ersten Mal Beifall, stürmischen
Applaus in einer Kirche, einer katholischen Kirche, erlebe.
Alle sind sich einig: Wir haben einen historischen Tag
erlebt! Er wird alles verändern. Die
Honecker-Clique hat ausgespielt. OHNE GEWALT haben wir sie entmachtet. Wir
lassen uns nicht mehr mit Erklärungen abspeisen,
WIR KLAGEN EIN !
Nach dem Gebet gehen wir zur Mahnwache St. Georgen und
stellen unsere Kerzen zu den Hunderten, die bereits brennen. Viele Autos am
Knoten 46 (zwischen den beiden Kirchen) hupen Solidarität.
Zu Hause dann die neuen Bilder aus Leipzig. Viele
Zehntausende sind es dort. Weit über Hunderttausend im ganzen Land. Friedlich
fordernd.
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