Das „Gebet für unser Land“ findet ab sofort vor der DEMO
statt.
Die Marktkirche ist übervoll. Die Menschen kommen
von der Arbeit und wollen Informationen. In den Zeitungen wird noch zu viel
gelogen oder verschwiegen.
Am letzten Donnerstag gab es im „Volkspark“ das erste
öffentliche Forum mit dem OB, der SED und dem Neuen Forum. Die Säle waren mit ausgesuchten
Leuten besetzt und der wirklich Interessierte stand vor der Tür. Aber es wurde
per Lautsprecher nach draußen übertragen und auch der Sender Halle berichtete
Live. Starke Emotionen löste die Antwort eines jungen Mannes aus.
Er wurde gefragt: „Stimmt es, dass ausgerechnet am Montag und auf dem halleschen
Marktplatz eine Gegendemonstration geplant sei, zu der die SED aufgerufen habe?“ „Ja. Das ist richtig, aber seine Genossen in BUNA haben das abgelehnt.“
Die SED-Leute Rau und Falkenstein dementieren.
Heute erschien in der „Freiheit“ eine „Erklärung
des Sekretariates der Bezirksleitung der SED“. Ich zitiere:
„Während
eines Bürgerforums im halleschen „Volkspark“ ist durch Diskussionsteilnehmer
behauptet worden, die Bezirksleitung Halle der SED hätte den Beschluß gefaßt,
am heutigen Tage auf dem halleschen Marktplatz eine Gegendemo unter dem Motto „ROTE FAHNEN GEGEN WEISSE KERZEN“ zu
organisieren. Diesen Beschluß hat es nicht gegeben.“
In der Kirche legt eine junge Frau einen Beweis vor. Sie
hat den Aufruf zur Demo vom Schwarzen Brett mitgebracht. Lügen, Lügen immer
wieder Lügen! Die Stimmung ist deutlich gereizt.
Nach dem Gottesdienst treffen wir meinen Sohn. Er will
heute dabei sein. Er hat Kerzen mitgebracht und ist aufgeregt. Die Stimmung ist
sehr gut. Ungeduldig warten alle auf den Beginn der DEMO.
Um fünf geht es los.
Wir laufen den schon bekannten Weg zur BL. Der Demozug ist bedeutend breiter
und länger. Wir lassen uns nicht wieder trennen und die Solidarität in den
gestoppten Autos ist motivierend. Es brennen Kerzen in LKW-Fahrerkabinen, PKWs
hupen und die Fahrer winken uns zu. Am INTERHOTEL werden wir schon von vielen
erwartet. Die Fußgängerbrücke über die Leninallee ist schwarz von Menschen. Für
sie da oben muss es ein großartiges Bild sein:
Zehntausende mit vielen Kerzen und noch mehr Spruchbändern.
Ganze Schulklassen mit ihren Lehrern sind dabei. Sie tragen Plakate zum Thema
Bildung. Eine riesige Menschenmenge stellt sich vor dem „Cafe Böhme“ auf. Die
Sprechchöre sind aggressiv, zu viele kommen sich verscheißert, veralbert,
betrogen vor. „Achim weg, hat kein Zweck“, „STASI in die Volkswirtschaft“ und „Drei Ämter – Drei Männer“ wird
gefordert. Etwa eine halbe Stunde rufen wir „Achim komm raus!“
Es tut sich
nichts. Das Haus bleibt dunkel. Die Bonzen haben sich verschanzt und beobachten
uns hinter dunkelgetönten Scheiben. Auf
Postenketten haben sie heute verzichtet.
Aber vielleicht wollte auch keiner
mehr!?
Wir stellen Kerzen direkt vor die Eingänge und auf die Treppen.
Der Zug geht weiter. Es ist schon spät. Ich muss mich sputen um
pünktlich im Laden zu stehen. Am Franckeplatz treffe ich die Spitze des Zuges
und freue mich. Die Letzten haben
sicher erst die BL passiert. Ein tolles Gefühl: So viele
Menschen sind nicht zu übersehen und auch unmöglich „konterrevolutionär“.
Ungefähr 20.30 Uhr hören wir im Laden plötzlich die
typischen Demorufe. Das gibt es doch nicht? Demo in Neustadt? Mein Freund nimmt seine
Jacke und schließt sich noch mal an.(Wir hatten uns gerade über das Ende der
Demo in Halle unterhalten. Die
„Internationale“ wurde gesungen. Unsere Hymne ist nicht mehr bekannt.
Gesungen wurde sie schon zu lange nicht mehr.)
Späte Kunden erzählen mir, dass sie mit dem Ruf „Gorbi,
Gorbi“ an der Garnison vorbei gelaufen sind. Der Rest will zum „Roten Haus“,
dem STASI- Hauptquartier am Gimritzer
Damm. Hoffentlich geht das gut?
Im Fernsehen gibt es gleich 2 Sensationen: Karl-Eduard von
Schnitzler meldet sich zum letzten Mal mit seinem unsäglichen „Schwarzen Kanal“
und im 2.Programm des DDR-Fernsehens gibt es ab heute „AK- Zwo“
Spätnachrichten. Mit einem ausführlichen Bericht von den Demos und aus Leipzig.
An diesem Montag waren wir alle auf der
Straße. Meine Tochter in ihrem
Studienort Magdeburg.
Sie schreibt mir:„Wir kommen gerade vom Dom und haben
anschließend die Demo mitgemacht. Es war überwältigend. 50 bis 60 Tausend
Menschen im strömenden Regen. Im Dom wurde zur Ruhe gemahnt und es war auch
ruhig. Klatschchöre am laufenden Band. Ständig, immer wieder.Und es wurde immer
lauter. Tausende Kerzen waren überall. Und grüne Bänder. Auch wir werden ab
Morgen ein grünes Band tragen. Als Zeichen der Hoffnung!“
Ich kann ihr nur gratulieren. Bisher hatte sie eher eine
ablehnende Haltung.
Am Samstag mussten wir abends im Fernsehen mit Erschütterung die
Zerschlagung einer DEMO in Prag sehen Warum kann das nicht überall so friedlich ablaufen wie
hier?
Auszug aus " Wer zu spät kommt... von M.Richter
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