Heute wird ein wichtiger Tag in unserer Geschichte.
Ich fühle das schon am Morgen, als ich die Zeitung
aufschlage und dieses Reisegesetz im alten Politbürostil lese. Die Politik der
kleinen Zugeständnisse soll weitergehen.
Aber
nicht mit uns! Das Volk wird in Massen auf der Straße sein.
Am Nachmittag gehe ich wieder zum „Gebet für unser Land“.
Die Marktkirche war noch nie so voll. Dichtgedrängt stehen
die verunsicherten Menschen und wollen jetzt wissen, was die Kirchenvertreter
zu sagen haben.
Wohin geht unser Land? In die Katastrophe?
Es gibt fast niemanden mehr, der in den letzten Tagen nicht
Abschied von Verwandten oder Freunden nehmen musste. Allein in unserer kleinen
Kaufhalle sind heute früh 3 Kollegen nicht zur Arbeit erschienen. Die Frau
eines Kollegen rief an und fragte nach ihm. Er ist mit seiner Freundin weg.
Aber auch Frauen bringen das fertig. Lassen einfach ihre
Kinder im Stich! Familientragödien tausendfach.
Das Gebet ist heute nur kurz. Aktuelles überwiegt. Jeder
kann nach vorn gehen und seine Erlebnisse, Hoffnungen und Wünsche vortragen.
Unglaubliches wird berichtet, aber es ist doch die schlimme Wahrheit. Als ich
endlich den Ausgang erreicht habe, ist der Markt bereits voller Menschen. Meinen
Freund finde ich in diesem Gedränge nicht. Sehr langsam geht es vorwärts. Die Straßenbahnen
sind eingekeilt und als ich in Höhe „Cafe am Markt“ bin, geht absolut nichts
mehr. Von hinten wird gedrängelt, aber vorn ist kein Platz mehr. Ich habe Angst
zerquetscht zu werden.
Die Kundgebung beginnt eher als geplant. Es ist sehr
neblig, nasskalt und jetzt fängt es auch noch an zu regnen. Doch die Stimmung
ist heiß. Achim Böhme, der Sekretär der Bezirksleitung, stellt sich und wird
erneut ausgebuht und ausgepfiffen. Auf die Frage, warum er so ein großen Westauto
fährt, antwortet er: „Ich habe die ganzen Jahre für diesen Staat gearbeitet und
deshalb das Recht so zu leben!“
Riesentumult
bricht los. Nur seine Sicherheitsleute können ihn vor der, mit Recht,
aufgebrachten Menge schützen. Haben wir etwa nicht gearbeitet? Doch, aber wir
sind 40 Jahre ausgebeutet worden von vielen, viel zu vielen Böhmes.
So
klar wie heute, war es den meisten noch nie
Schätzungsweise 100.000 Hallenser protestieren heute. In
Leipzig sind es etwa 500.000 Demonstranten. Im ganzen Land weit über eine
Million. Dieses Signal kann man nicht mehr übersehen. Die Regierung ist zum
Handeln gezwungen!
Auszug aus " Wer zu spät kommt... von M.Richter
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen